"Die gottlosen Ameisen" heißt der 140 Seiten starke Prosaband von Johannes Beilharz, den der Alkyon Verlag soeben, im Frühjahr 2003, herausgebracht hat. Darin finden sich fünf "Stories" und 15 zumeist kurze Erzählungen. Der Klappentext bereits verrät es: Der Autor hat längere Zeit im Ausland, in Amerika gelebt, und entsprechend international sind auch seine Geschichten: Schauplätze, Personen, einfach alles ist international. Das meiste wird in atemberaubendem Tempo heruntererzählt. Dazwischen allerdings sind immer wieder Details eingestreut. Der Leser merkt auf und denkt sich: Das hat jetzt sicher etwas zu bedeuten! Ehe er länger darüber nachdenken kann, geht es freilich schon wieder in großen Erzählschritten weiter. Sich in eine Geschichte einfühlen, mit den Personen warm werden, zu den Schauplätzen einen inneren Bezug finden - das ist alles nicht drin und wird offenbar vom Autor auch gar nicht gewünscht. Eine kalte Welt wird hier blitzartig beleuchtet, eine Welt wie in der Disco-Lightshow, freilich bar jeder Sinnlichkeit. Wo sich eine solche einstellen könnte, sorgt der Autor dafür, dass sie durch das ständige Gerede der Personen sofort abgetötet wird. Diese verständigen sich bevorzugt in Kurzsätzen. Oft genug fragt sich der Leser: Können diese Personen nicht schweigen? Ist es das, was der Autor zeigen will? Daß immer und überall geredet werden muß? Und zwar nicht, um wirklich etwas mitzuteilen (womöglich noch über sich selbst), sondern nur um keine peinliche Stille aufkommen zu lassen, bei der vielleicht ein Gefühl oder sonst Ungefiltertes nach außen dringen könnte. Also wird jede nur denkbare Wunde mit kurzatmigen Statements zugepflastert, die meist nicht über vier, fünf Worte hinausgehen.
Wir reden also zuviel - und das auch noch in den falschen Augenblicken. Das ist eine Botschaft dieser Erzählungen. Zweitens: Es gibt einfach zu viele Menschen auf dieser Welt. Selbst in der kleinsten Kurzgeschichte versteht der Autor eine Fülle verschiedenster Personen unterzubringen. Ob er damit drittens die Oberflächlichkeit der zwischenmenschlichen Beziehungen in unserer Zeit darstellen möchte? Sogar der Tod bzw. Selbstmord auf dem Motorway erscheint videocliphaft, eine kleine Zapp-Episode. Offenbar will der Autor jegliche Sentimentalität vermeiden. Das gelingt ihm zweifellos. Allerdings vermeidet er auch, dass der Leser für seine Personen und das, was sie erleben ("erleben" sie denn je etwas?), das geringste Interesse entwickelt. Wie sich auch sonst nichts "entwickelt" und sichtlich auch nichts entwickeln soll in diesen Erzählungen. Sie ziehen halt so an einem vorüber - war da was? Unwillkürlich erwartet man, dass zwischendurch immer wieder Werbung kommt.
Vielleicht ist ja der Rezensent dieser modernen amerikanisierten Weltsicht bloß nicht gewachsen, einer vom "alten Europa" eben. In "Europa. Eine Geschichte" (Achtung, doppelsinnig!) wird dieses alte Europa auch mal schnell durchstreift, die beiden Protagonisten geistern dabei wie Comicfiguren durch die Kulissen Südwestdeutschlands. Die Protagonistin erinnert den Protagonisten an Maria Schneider aus dem "Reporter"-Film mit Jack Nicholson. Aha. Und was weiter? So geht es die ganze Zeit. Es werden Spuren gelegt, die nicht mal im Sande verlaufen. Sondern der Leser merkt nur, dass es gar keine Spuren waren. Nicht wenige Geschichten enden damit, dass jemand einen anderen erschießt. Aber auch die Personen, die bis zum letzten Satz überleben, hatten vorher schon stark unter Schwindsucht gelitten.
Die ersten fünf, Raymond Chandler gewidmeten "Stories" bestehen zu achtig Prozent aus Dialogen, fast nur wörtliche Rede. Das soll möglicherweise irgendwie an Chandler erinnern, vor allem erinnert es aber stark an Comics. Freilich hätte man da noch die lustigen Zeichnungen, und die Sprechblaseninhalte sind meist auch pointierter. Nun könnte aber auch dies ein gewolltes Stilmittel des Autors sein: Die Einbildungskraft des Lesers soll angeregt werden, folglich läßt man die Zeichnungen weg. Der Leser darf sich die Bilder zu den Sprechblasen selber ausdenken.
"Kann ich mit dir kommen?" fragte sie mein Gesicht im
Spiegel.
"Warum?"
"Du bist eine gute Erinnerung, und eine gute Erinnerung könnte mir gerade
helfen."
"Was willst du: Sex, Liebe oder mich?"
Sie stand auf und stellte sich neben mich vor den Spiegel.
Sie legte mir eine Hand auf die Schulter.
"Ich weiß nicht, was ich will. Ich weiß nicht genau, ob ich dich will,
oder nur etwas an mir, an das ich mich erinnere."
"Und ich soll als Katalysator deiner Selbstentdeckung
fungieren."
"Versuchst du, mir weh zu tun?"
"Wir reden immer noch nicht miteinander."
Man stellt sich als Leser die Frage: Wer redet so? Oder: Was soll damit gezeigt werden, dass der Autor seine Personen so daherreden läßt? Wahrscheinlich soll man sich darin wieder erkennen. Diesem Test muß sich freilich jeder selbst unterziehen. Und somit ist dieses Buch durchaus zu empfehlen.
Copyright © Jörg Neugebauer 2003
Johannes Beiharz: Die gottlosen Ameisen. Erzählungen, Weissach i.T.: Alkyon-Verlag 2003. 140 S., Mit 6 Illustrationen des Autors, € 9,40