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Lioness

„Lioness“ // Deutschland-Start: nicht angekündigt

Inhalt / Kritik

Lioness – die Löwin, die starke Mutter, die für ihr Kind und ihre Familie kämpft. So würde sich Helena (Katariina Unt) sicherlich gerne sehen; mit ihrer Tätigkeit als Sanitäterin hilft sie zumindest anderen Menschen und kann davon leben. Ihre 15-jährige Tochter Stefi (Teele Piibemann) nimmt das jedoch anders wahr – sie fühlt sich von ihrer emotional kalten Mutter vernachlässigt, die Schule geht ihr auch auf die Nerven, und so kommt sie in die schwierigen Kreise einer gewalttätigen, Drogen nehmenden Gang, mit der sie nächtelang von zuhause abhaut und schließlich in einer suizidalen Spirale landet. Helena tut, was eine besorgte Mutter eben tut, kidnappt kurzerhand ihre Tochter aus einer psychiatrischen Einrichtung und kettet sie im kleinen Landhäuschen der Familie im Bett fest, um die Kontrolle über ihr Leben wiederzuerlangen.

Pubertät hittet anders

Die Dualität innerhalb der Familie, der auch Vater Karel (Ivo Uukkivi) und der 9-jährige Sanders (Joonas Mikk) angehören, wird innerhalb der ersten Minuten spürbar: Als die Eltern sich abermals enorme Sorgen um die abhandengekommene Tochter Stefi machen, stapft sie doch irgendwann nach Hause – während der Vater sie zuerst am Schlafittchen packt, dann aber erleichtert umarmt, schließt Helena mit starrem Blick die Schlafzimmertür vor ihr und will nichts von ihr wissen. Kein Wunder, dass solch ein Verhalten ihr gegenüber Stefi nicht dazu animiert, brav bei ihren Eltern zu bleiben und das Leben einer „normalen“ Jugendlichen zu leben. Oder ist sie damit nicht schon irgendwo normal? Rebellion gehört zur Pubertät wie der Senf zur Bratwurst, und audiovisuelle Verarbeitungen jugendlicher Probleme gibt es wie Kokain in Kolumbien.

Egal ob basierend auf wahren Begebenheiten wie Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo in den 1980ern, in Porträts von Jugendkulturen wie Kids in den 90er Jahren oder bei der Serie Skins für Millennials, ist Teenie-Leichtsinn gepaart mit harten Lebensrealitäten ein niemals auserzähltes Erfolgsrezept für schockierende, aufwühlende Produktionen; hier wandelt sich Unschuld ins Düstere, hier zerbrechen Kinderseelen, hier verzweifeln Erwachsene, die selbst emotional viel zu unreif sind, um die Schwierigkeiten ihrer Sprösslinge sinnvoll zu lösen. Mit der Vielzahl an jedes Jahr aufs Neue bei Arthouse-fokussierten Festivals erscheinenden Coming-of-Age Dramen wird es schrittweise schwerer, auffallende und innovative Akzente zu setzen. Der Troubled-Teenager-Tropus ist nun doch vielfach kulminiert, meisterhaft in Szene gesetzt worden, und Party, Drogen, Aggressionsprobleme, Selbstüberschätzung sowie Widerstand gegen die Staatsgewalt gehören zum guten Ton bei artsy-edgy Filmproduktionen.

Generationenübergreifende Mutterkomplexe

Bei Lioness trennt sich allerdings die Spreu vom Weizen, selbst innerhalb des Films. Katariina Unt und Teele Piibemann stellen die klaren schauspielerischen Highlights dar; Unt rangiert zwischen emotional unverfügbar, halbwegs gesunder Erwachsener und voller verzweifelter Liebe zu ihrer Tochter, während Piibemann die zerrissenen, psychotischen Episoden ihrer Figur der Stefi stimmungsvoll und engagiert herüberbringt – sie möchte mit aller Kraft schreiend aus dem Fenster springen, sie wirft ihrer Mutter ein „Ich werde dich immer hassen!“ entgegen, und allein diese Szenen sorgen für authentisches Unbehagen. Die Jugendgang, der sie sich anschließt, allen voran die Figur der Mariann (Elina Masing), wirkt dem gegenüber extrem karikiert, erbarmungslos brutal, aber auch cringe. Hoffentlich denkt keine jugendliche Person, solch ein Auftreten sei nachahmenswert, und ebenso bleibt es zu hoffen, dass kein außenstehender Mensch zu dieser aufgesetzten, überzogenen Coolness aufsieht. Dies ist jedoch weniger das Problem der Schauspieler*innen als das ihrer geschriebenen Rollen.

Gemeinhin wandert Lioness auf einem schmalen Grat zwischen ernstem Schlag in die Magengrube und Fremdscham, wobei diese Wanderung erstaunlich gut gelingt. Nuanciert werden elterliche Erschwernisse ergründet, generationenübergreifende schädliche Verhaltensweisen bis hin zu Traumata dargelegt, und in kurzen Momenten kommt sogar so etwas wie Verständnis und Sympathie für eine Mutter auf, die Freiheitsberaubung aus Mangel an anderen erdenklichen Alternativen betreibt. Vollständig sympathisch ist in diesem Film niemand so wirklich, was die Gesamtsituation ob ihrer verrückten Ausgangslage nachvollziehbarer gestaltet. Am Ende will diese Löwin einfach nur ihr Kind am Leben erhalten, komme, was wolle – selbst, wenn sie für dieses Ziel ihr Kind aus dem Blick verliert.

Apropos „Blick“: Diese estnische Produktion kann sich wirklich sehen lassen! Die ausgeschmückte, rote Tapete des ländlichen Zimmers, in dem Stefi festgehalten wird, brennt sich in die Linse, die Bildkompositionen sind sorgfältig durchdacht, die Nacht scheint grell und die Tage düster. Die tiefen Emotionen, die seelischen Narben, die Lioness porträtieren möchte, sind visuell zwischen den Aufnahmen greifbar zu erhaschen. Manchmal wäre etwas mehr „Tell, don’t show“ angebracht, so werden beispielsweise (zum Glück nicht explizite) Szenen eines Sextapes, das die minderjährige Tochter (zum Glück gespielt von einer volljährigen Schauspielerin) mit ihren zwielichtigen Kumpan*innen dreht, etwas zu ästhetisiert auf dem Display eines Smartphones gezeigt – das muss nicht sein. Gleichzeitig profitieren andere Szenen, in denen die Mutter von den Halbstarken bedroht wird, umso mehr von dieser Grobheit.

Credits

OT: „Emalõvi“
Land: Estland
Jahr: 2024
Regie: Liina Triškina-Vanhatalo
Drehbuch: Liina Triškina-Vanhatalo
Musik: Nils Kacirek
Kamera: Erik Põllumaa
Besetzung: Katariina Unt, Teele Piibemann, Ivo Uukkivi, Joonas Mikk, Elina Masing

Trailer

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Lioness
fazit
Mit zunehmender Übersättigung wird es für Jugenddramen schwerer, das Publikum mit schockierenden Darstellungen und Konzepten hinter dem Ofen hervorzulocken. „Lioness“ kriegt das über den Großteil der Zeit hin, nicht zuletzt durch die Positionierung der Mutter als Protagonistin – chapeau! Dabei zünden nicht alle Ideen, der Film hätte von stringenterer Regulierung profitieren können. Ein sehenswertes, massives Unwohlsein erzeugendes Werk, das mit Spannung auf zukünftige Projekte von Liina Triškina-Vanhatalo blicken lässt.
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