Didacta-Verband zu SchĂĽlerdaten: "Sehen die Gefahr der Stigmatisierung"

Schüler-ID und Bildungsverlaufsregister bieten laut dem neuen Präsidenten des Didacta-Verbands große Chancen. Ein hohes Datenschutzniveau sei aber wichtig.

vorlesen Druckansicht 2 Kommentare lesen
Schülerinnen und Schüler sitzen in einer Klasse. An ihren technischen Geräten ist ein Cloud-Upload-Zeichen zu sehen

(Bild: Fractal Pictures/ Shutterstock.com)

Lesezeit: 10 Min.
close notice

This article is also available in English. It was translated with technical assistance and editorially reviewed before publication.

Am 20. Mai dieses Jahres hat der Didacta-Verband einen neuen Präsidenten gewählt: Hans Joachim Prinz. Seine Amtszeit beginnt damit nur kurz nach der Arbeitsaufnahme der neuen Bundesregierung, die im Koalitionsvertrag unter anderem eine größere Datennutzung und auch -zusammenführung im Bildungsbereich angekündigt hat. Heise online konnte Prinz zu seinem Amtsantritt schriftlich befragen: zu seinen persönlichen Schwerpunkten, aber auch der Haltung des Didacta-Verbands zu den Digitalisierungsvorhaben im Bildungssystem und aktuellen Debatten, wie privater Handynutzung in Schulen und Social-Media-Verbote für Kinder.

Dr. Hans-Joachim Prinz ist Präsident des Didacta-Verbands.

(Bild: Didacta-Verband)

Wechsel an der Spitze bringen immer die Frage mit sich, wie Amtszeiten gestaltet und welche Akzente gesetzt werden: Was haben Sie sich fĂĽr Ihre Amtszeit vorgenommen? Ich habe Ihren Worten zum Antritt entnommen, dass Ihnen Bildungsgerechtigkeit wichtig ist. Welche Themen treiben Sie sonst noch besonders um?

Die Verzahnung der einzelnen Bildungsbereiche, die für glattere Übergänge der Menschen in das "nächste" System und letztendlich für deren passende Qualifikation sorgen soll, treibt mich um. Wie können Kitas, Schulen, Berufsschulen und ausbildende Unternehmen besser zusammenarbeiten? Welche Rolle spielen außerschulische Lernorte für die Bildung? Wie finden Mitarbeitende eine passgenaue Weiterbildung? Diese Fragen müssen wir beantworten.

Gleichzeitig ist mir wichtig, die Bedeutung der Unternehmen der Bildungswirtschaft für die gesamte Wirtschaft zu unterstreichen. Unsere Mitglieder stellen eine riesige Wirtschaftskraft dar, die Teil unseres Bildungssystems ist. Ich wünsche mir eine stärkere Wahrnehmung dieses Aspekts, auch in der Politik.

Festzuhalten ist: Wir sehen in Deutschland derzeit eine wachsende Bedeutung aller Bildungsbereiche. Die Frühe Bildung gewinnt zurecht endlich die nötige Anerkennung, und die berufliche Bildung und die Erwachsenenbildung sind in Zeiten wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Umbrüche zentral. Es geht ums lebenslange Lernen, und der Didacta Verband ist der einzige Verband, der dies mit seinen Mitgliedern abbildet.

Nun gibt es auch eine ganz frische Bundesregierung, die ebenfalls ihre eigenen Akzente setzen will und im Koalitionsvertrag schon ein paar Ziele formuliert hat. Was halten Sie von dem, was die Regierung im Bildungsbereich umsetzen möchte? Sind Ihnen die Ausführungen und Versprechen konkret genug?

Im Koalitionsvertrag sind wichtige Punkte enthalten, die positive Impulse geben, und das Sondervermögen schafft natürlich Erleichterung. Entscheidend wird nun sein, diese Ansätze in der Umsetzung zu konkretisieren. Aus Sicht der Bildungswirtschaft ist es notwendig, dass die angekündigten Maßnahmen nicht als Einzelprojekte nebeneinanderstehen, sondern in eine kohärente Reformarchitektur münden, die Wirkung und Effizienz messbar macht.

Unser Bildungssystem muss Menschen dazu befähigen, sich in allen Lebensphasen in einer hybriden, sich stetig wandelnden Welt zu orientieren und diese aktiv mitzugestalten. Dazu gehört eine Pädagogik, die analoge wie auch virtuelle Lebens- und Lernwelten berücksichtigt – in denen Menschen nicht nur mit realen Bezugspersonen, sondern auch mit digitalen Lernumgebungen in Beziehung treten. Bildungsprozesse müssen kooperativ, hybrid und kontextsensibel gestaltet werden.

Eine moderne Steuerung des Bildungssystems erfordert klare Zielgrößen, regelmäßiges Bildungsmonitoring und eine evidenzbasierte Weiterentwicklung der Bildungspläne. Hier gilt es, gezielt nachzusteuern und vor allem mit den relevanten Akteuren im Gespräch zu bleiben. Was können Schulen, Verwaltung, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und auch die Bildungswirtschaft als Partner leisten? Nur im Dialog werden wir die passenden und dauerhaften Lösungen entwickeln können.

Ihr Vorgänger, Theodor Niehaus, hatte darauf hingewiesen, dass viele mittlerweile erhobene Daten im Bildungssystem ungenutzt bleiben und auch die neue Bundesregierung möchte mehr Daten zu Schülerinnen und Schülern sammeln, um unter anderem ein Bildungsverlaufsregister zu füttern. Worüber wissen wir in unserem Bildungssystem noch zu wenig Bescheid?

Wir wissen zu wenig über die Brüche in den Übergängen, beispielsweise beim Wechsel von der Schule zum tertiären Bereich. Für viele Jugendliche endet die Pflichtschulzeit nicht mit dem Beginn einer Ausbildung, sondern mit Zwischenlösungen. Berufsvorbereitungsjahre, Praktika, Nebenjobs – dies sind häufig Übergangslösungen, die nicht auf den Beginn einer Ausbildung zielen. Die Folge: Ein Teil dieser Jugendlichen findet erst mit Verzögerung einen Ausbildungsplatz und hat eine geringere Berufsauswahl. Diese jungen Menschen sind eher abbruchgefährdeter als Gleichaltrige, denen der direkte Übergang gelingt. Die geplante Schüler-ID könnte hier helfen.

Dass Erkenntnisse zu Bildung manchmal schon sehr lange in Deutschland vorliegen, aber das nicht unbedingt zu umfassenden oder raschen politischen Reaktionen fĂĽhrt, kann man unter anderem an dem Thema "Herkunft und Bildungserfolg" sehen. Die Ampel-Regierung versuchte das zuletzt mit dem Startchancen-Programm zu adressieren. Die erste PISA-Studie 2001 hatte aber schon ein Schlaglicht darauf geworfen.

Das ist richtig, und die gewünschte Veränderung im Bildungssystem braucht viel zu lange. Das Startchancen-Programm ist aus unserer Sicht zunächst ein passendes Instrument, das an relevanten Stellschrauben ansetzt – auch wenn es derzeit nur einen geringen Teil der Schülerschaft erreicht.

Dennoch bleibt der Eindruck: Bildung hat keine politische Relevanz. Eine Wahlperiode dauert nur vier Jahre. Bildung ist aber eine langfristige Investition, und inzwischen sind Veränderungen nötig, die sehr viel mehr Zeit brauchen. Für eine zukunftsfähige Gesellschaft muss Bildungsgerechtigkeit daher ganz oben auf der Agenda stehen.

Bildungsgerechtigkeit soll auch durch eine genauere, datengestützte Analyse des Bildungssystems und von Bildnungsbiographien erreicht werden. Große Datensammlungen bergen allerdings auch immer die Gefahr, dass ein gläserner Bürger entsteht. Gerade Kinder und Jugendliche durchlaufen viele, auch manchmal überfordernde Entwicklungsphasen. Wie kann man vorbeugen, dass Heranwachsende durch umfassende Datenerfassungen nicht vorschnell abgestempelt oder auch langfristig stigmatisiert werden?

Welche Daten genau fĂĽr das Bildungsverlaufsregister einerseits und fĂĽr die individuelle SchĂĽler-ID andererseits erfasst werden sollen, ist noch nicht bekannt. Laut Koalitionsvertrag sollen jedoch rechtskreisĂĽbergreifend Daten aus Schule, Jugend- und Eingliederungshilfe zusammengefĂĽhrt werden.

Für uns sind hier noch wichtige Fragen offen. Wenn potentiell äußerst sensible Daten von Kindern und Jugendlichen verknüpft und pseudonymisiert gespeichert werden, bedarf es höchster technischer, rechtlicher sowie verfahrensmäßiger Maßnahmen zur Absicherung. Ferner ist zu klären: Wie sind die Löschfristen geregelt? Wie sieht es mit der Transparenz und der Kontrolle über die gespeicherten Daten durch die Betroffenen aus? Können also Betroffene Einsicht nehmen?

Vor allem jedoch sehen wir in der Tat die Gefahr der Stigmatisierung von Kindern und Jugendlichen. Die erhobenen Daten zu einem jungen Menschen stellen immer nur eine Momentaufnahme dar. Wird diese mit durchschnittlichen Bildungsverläufen verglichen, werden bestimmte Muster potentiell festgeschrieben, das individuelle Potential des jungen Menschen im schlimmsten Fall nicht hinreichend erkannt und über den Zeitverlauf angemessen ausgeschöpft. Hier kommt den Lehrkräften als Bezugspersonen die entscheidende Rolle zu, neben den persönlichen Einschätzungen die Kenntnis über statistische Verläufe gegebenenfalls sensibel in die bestmögliche individuelle Förderung einfließen zu lassen. Wir werden daher den weiteren Prozess der Ausgestaltung aufmerksam und kritisch begleiten.

Im Bildungskontext gibt es momentan einige Verbotsdebatten. Es wird unter anderem sehr viel über das Thema private Handynutzung während der Unterrichtszeit diskutiert. Welche Haltung nimmt hier der Didacta-Verband ein?

Die Nutzung privater Handys durch Schülerinnen und Schüler in der Schule schafft unbestritten Probleme. Kinder und Jugendliche lassen sich durch die Handys im Unterricht ablenken, Schule als Ort der persönlichen Begegnung nimmt geringere Bedeutung an. Auch erleben alle Beteiligten, dass Konflikte und Probleme aus dem digitalen Raum im zunehmenden Maße in die Schule getragen werden. Immer mehr Schulen erlassen daher Verbote privater Handys oder fassen solche ins Auge.

Ein politisch erlassenes Verbot privater Handys erachten wir im Verband jedoch als nicht zielführend. Stattdessen sollten Schulen weiterhin autonom entscheiden, wie sie die Nutzung von Handys im Unterricht und auf dem Schulgelände regeln und dabei alle Beteiligten mit einbeziehen. Cybermobbing, Mediensucht und Fake News lassen sich nicht durch Handyverbote aus der Schule aussperren. Stattdessen sollte die Vermittlung digitaler Kompetenzen und Medienbildung Teil des Lehrplans werden. Wir haben hierzu eine Stellungnahme verfasst.

Die frühe Gewöhnung an Geräte wie Smartphones und Tablets, der frühe Zugriff auf digitale Spiele und die Nutzung von Social Media ab Kindesalter werden auch immer wieder als Störfaktoren für Bildung gesehen. Auch hier die Frage: Welche Haltung nimmt der Didacta Verband dazu ein?

Uns geht es darum, Kinder und Jugendliche fit zu machen für eine zunehmend digital agierende Welt. Dabei stehen die altersgerechte Begleitung und Vermittlung im Vordergrund. Wichtig ist dabei: Bildung kann nur im gesellschaftlichen Kontext funktionieren. Eine Bildung, die die Lebenswirklichkeit und die Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen aus der Alltagswelt nicht einbezieht, in diesem Fall also das Digitale und Virtuelle ausklammert, ist nicht erfolgreich. Gerade Kinder und Jugendliche brauchen einen Realitätsbezug beim Lernen – ebenso wie eine gute Beziehung zum Lehrenden.

Welche digitalen Angebote möchten Sie mehr in Bildungseinrichtungen sehen? Welche halten Sie vielleicht sogar für unverzichtbar?

Der Markt bringt eine Vielzahl innovativer, qualitätsvoller und datenschutzkonformer digitaler Tools und Inhalte hervor. Welche Werkzeuge und welche Inhalte Schulen jedoch einsetzen, sollten diese möglichst autonom entscheiden. Schulen und Schulträger sollten daher dabei gestärkt werden, die für sie passenden Plattformen und Inhalte zu wählen, und dafür die entsprechenden Budgets erhalten.

Ein wichtiges Ziel im 21. Jahrhundert ist sicher die Vermittlung digitaler Zukunftskompetenzen, insbesondere das Verstehen und Nutzen Künstlicher Intelligenz. Dazu bedarf es noch großer Anstrengungen bei der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften, und Schulen müssen dringend angemessene Budgets für datenschutzkonforme KI-Tools erhalten, die durch Schülerinnen und Schüler genutzt werden können.

Welche digitalen Hilfsmittel könnten aus Ihrer Sicht dazu beitragen, zu mehr Bildungsgerechtigkeit zu führen?

Tools, die individuelle Lernmaterialien für Kinder und Jugendliche erstellen, halte ich für sehr sinnvoll. So kann die Lehrkraft der Heterogenität der Klassen besser gerecht werden. KI-Anwendungen, die Korrekturen erleichtern und individuelle Rückmeldungen geben, entlasten die Lehrkraft und es bleibt mehr Zeit für Beziehungsarbeit, die für erfolgreiches Lernen unverzichtbar ist.

(kbe)