Kommentar: Getöse um den Flottengrenzwert

2025 wird der Flottengrenzwert strenger ausgelegt. Die Industrie warnt mit Unterstützung der Politik vor Milliardenstrafen. Die werden allerdings nie fällig.

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This article is also available in English. It was translated with technical assistance and editorially reviewed before publication.

Man kommt aus dem Staunen kaum noch heraus, obwohl es eine lange Tradition hat: Neue Abgasnormen oder auch die anstehende Verschärfung des Flottengrenzwertes scheinen, folgt der Medienkonsument den offiziellen Statements, für die Industrie nicht nur ziemlich plötzlich zu kommen. Nein, sie sind zudem auch grundsätzlich kaum zu erreichen. Wahlweise wird dann der massenhafte Verlust von Arbeitsplätzen oder gleich der komplette Untergang der gesamten Autoindustrie propagiert. Erstaunlich ist dabei, dass die Hersteller selbst, abseits der großen Überschriften, in den meisten Fällen selbstverständlich nicht nur Kenntnis von neuen Verschärfungen haben, sondern auch darauf vorbereitet sind. Was soll das Getöse dann eigentlich?

Ab 2025 wird der sogenannte Flottengrenzwert verschärft. Vereinfacht gesagt wird jedem Hersteller ein CO₂-Grenzwert zugewiesen, der sich unter anderem nach dem Leergewicht seiner Fahrzeuge richtet. Über alle Fahrzeughersteller hinweg müssen die Konzerne einen Wert von 94 Gramm CO₂/km erreichen. Anders als bisher wird dieser Wert, endlich, muss man sagen, im aktuellen Zyklus WLTP ausgegeben. Der bisherige Durchschnittswert von 95 Gramm CO₂/km wurde noch im NEFZ ermittelt – eine Verbrauchs-Erfassung, die seit 2017 eigentlich im Ruhezustand ist.

Für den neuen Grenzwert gelten die alten Strafen: Liegt ein Hersteller über seinem individuellen Grenzwert, muss er für jedes in der EU im jeweiligen Bezugsjahr verkaufte Auto pro Gramm Überschreitung 95 Euro Strafe bezahlen – unabhängig davon, ob das einzelne Modell diesen Grenzwert eingehalten oder nicht. Um das einmal kurz beispielhaft zu demonstrieren: Ein Hersteller verkauft eine Million Autos pro Jahr und liegt 5 Gramm über seinem individuellen Grenzwert. Dann sieht der Strafzettel für ihn wie folgt aus:

5 Gramm/COâ‚‚ x 95 Euro x eine Million Autos ergibt 475 Millionen Euro

Die neuen Grenzwerte sind fraglos eine Herausforderung für die Hersteller. Die Anstrengungen, die unternommen werden müssen, sind bei den Konzernen unterschiedlich, denn nicht alle sind ihrem Ziel gleich nah. Zu erreichen ist es fast überall nur über einen höheren Anteil von Neuwagen mit batterieelektrischem Antrieb.

Die Hersteller stehen dem natürlich nicht unvorbereitet oder gar wehrlos gegenüber. Vielmehr kennen sie diesen Fahrplan seit vielen Jahren genau und richten sich darauf ein. Niemand sollte vergessen, dass die Autoindustrie eine exzellent versorgte Lobby unterhält, die bei solchen Beschlüssen der Politik "mit Rat und Tat unterstützend beiseite steht". Beide Seiten haben kein Interesse daran, einer Schlüsselindustrie Vorgaben zu machen, die unmöglich einzuhalten sind. Die Legende von der Autoindustrie, die von der Politik unlösbare Aufgaben vorgesetzt bekommt, wird nach außen erstaunlich erfolgreich verkauft. Richtig ist sie trotz der ständigen Wiederholung nicht.

Autohersteller steuern seit vielen Jahren den Markt, der in Deutschland zu rund zwei Dritteln auf das Konto gewerblicher Zulassungen geht. Das Geschäft mit Dienstwagen ist für die meisten Hersteller also existenziell, und deshalb werden gerade batterieelektrische Autos und Plug-in-Hybride steuerlich auch so sehr unterstützt. Soll eine Antriebsart zusätzlich zeitlich begrenzt vorrangig in den Markt gedrückt werden, wird ein Anbieter mit Sonderangeboten und geradezu erstaunlichen Leasingraten nachhelfen. Das ist nicht neu, sondern in dieser Marktwirtschaft seit Jahrzehnten gelebte Praxis.

Wie genau die Hersteller auf die Erfüllung des Flottengrenzwertes schauen, lässt sich mit zwei Beispielen gut belegen. Volkswagen lag für 2024 in der Prognose leicht oberhalb seines Grenzwertes. Deshalb sanken die Preise für das Elektroauto ID.3 bis Jahresende vorübergehend – beim Basismodell auf knapp unter 30.000 Euro.

Mein Kollege Christoph M. Schwarzer schickte mir dieser Tage die lokale Offerte eines flammneuen Kia EV3. Das Basismodell dieses Autos wird offiziell ab 35.990 Euro angeboten, das Angebot für die mittlere Ausstattungslinie samt großer Batterie belief sich vor Ort auf 33.500 Euro. Solche Schnäppchen werden wir im kommenden Jahr möglicherweise häufiger sehen, und zwar immer dann, wenn die Prognosen andeuten, dass einem Autohersteller bei einer Überschreitung seines individuellen Grenzwertes eine Strafe droht. Die werden vermieden, indem dann Elektroautos im Preis so lange und so weit gesenkt werden, bis der Anbieter wieder "im Soll" ist. Angebot, Nachfrage und drohende Strafen formen den Preis.

Natürlich gehört Klappern zum Handwerk. Lautes Klagen erhöht schließlich den politischen Druck, der so gebeutelten Industrie mit Steuermitteln unter die Flügel zu fassen. Es darf also keineswegs verwundern, wenn der Präsident des europäischen Automobilverbands Acea, Luca de Meo, vor möglichen "Milliardenstrafen" warnt, die der Autoindustrie durch die strengeren Vorgaben bei den Flottengrenzwerten drohen würden. Doch dass sie fällig werden, ist höchst unwahrscheinlich. Über eine ausgefeilte Angebotsgestaltung werden die Hersteller das zu vermeiden wissen. Dass es in diesem Rennen Verlierer geben wird, ist absehbar.

Sollte die Politik finanziell dennoch etwas beisteuern, wandert das vor allem in eine Richtung: in die Taschen der Konzerne. Nach dem so plötzlichen Ende der Kaufunterstützung konnten einige Hersteller die Preise für E-Autos geradezu erstaunlich schnell massiv senken, was den Verdacht erhärtet, dass der Herstelleranteil zuvor selbstverständlich eingepreist war. Überraschen dürfte das eigentlich niemanden, schließlich sind Autohersteller nicht dem Gemeinwohl verpflichtet, sondern einer Gewinnmaximierung.

In dieser Gemengelage ist es deshalb durchaus bemerkenswert, wenn der aktuelle Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) anmerkt: "Ich finde das in Ordnung, wenn man in dieser schwierigen Situation für die Automobilindustrie nicht noch zusätzlich eine Milliardensumme aus den Konzernen rausnimmt." Diese sollte lieber investiert werden, etwa in den Hochlauf der E-Mobilität, argumentiert Habeck. Nun, darauf sind die Verantwortlichen in der Autoindustrie ziemlich sicher auch schon gekommen. Denn anders als derzeit vielerorts zu lesen ist, sitzen dort Menschen, die durchaus über den Tag hinausdenken und deshalb längst alle Hebel in Bewegung gesetzt haben, Strafen zu vermeiden und die Mittel gegebenenfalls selbst auszugeben. Die meisten Horrorszenarien, die momentan in schillernden Farben gezeichnet werden, dienen der Margenoptimierung – im Idealfall mithilfe von Steuergeld.

(fpi)