Moralismus
Der Begriff Moralismus (lat. moralis - sittlich) wird im alltäglichen Sprachgebrauch meist abfällig verwendet, um eine entweder als übertrieben oder als künstlich konstruiert bezeichnete sittliche Forderung zu benennen. Man versteht darunter etwa die rigorose Anwendung moralischer Prinzipien. Ein ähnlicher Begriff ist Prinzipienreiterei.
Gegen den Moralismus wenden sich:
- alle Formen von Ethik und Moral, die beanspruchen rational begründbar und somit prinzipiell unabhängig von spezifischen Interessen zu sein, z. B. der moderne Utilitarismus,
- moralischer Relativismus,
- Amoralismus, der Ethik und Moral komplett ablehnt.
Das Problem jedes Moralismus-Kritikers ist die Begründung, ob eine spezifische sittliche Forderung eine übertriebene Zumutung ist, oder ob er nicht einfach eine Ausrede für Akrasia sucht.
Relativismus
Als künstlich konstruiert wird etwa von sozialistischen Philosophen die "bürgerliche Ethik" bezeichnet, die versucht, jenseits von reiner Beobachtung der tatsächlichen Moralvorstellungen (der Klassen) eine aus höchsten Prinzipien (Gott) abgeleitete ewig gültige Ethik zu formulieren: "Die herrschende Moral ist immer die Moral der Herrschenden". Diese philosophische Meinung ist eine Spielart des Relativismus.
Amoralismus
Unter Amoralismus (lat. amoralis - unsittlich) versteht man die Lehren der praktischen Philosophie, die moralisch hergeleitete Normen überhaupt ablehnen, in neuerer Zeit auch die, die ein Leben überhaupt losgelöst von Moralvorstellungen postulieren. Es gibt auch den Begriff Immoralismus, der manchmal ähnlich wie Amoralismus, manchmal in abweichender Bedeutung gebraucht wird.
Philosophische Klassiker des Amoralismus
Zu den inhaltlich nicht einheitlichen Quellen des Amoralismus zählen die Sophisten (Thrasymachos[1], Kallikles[2]), Lao-tse und Mandeville[3]. Machiavelli vertrat die Position, daß moralisches Verhalten (nur) in der Politik nicht anwendbar ist. Donatien Alphonse François de Sade vertrat die These, daß Tugend ins Unglück, Laster hingegen zum Glück im Sinne des Hedonismus führt[4]. Max Stirner vertrat eine Position des Egoismus, nach der andere Menschen als Mittel gebraucht werden[5]. Friedrich Nietzsche analysierte die traditionelle Moral[6][7], aber auch Christentum, Demokratie, Humanismus, Demokratie, Ressentiments als Ergebnisse der "Sklavenmoral" der Benachteiligten, die die Bessergestellten für böse erklären. Die von ihm positiv gewertete "Herrenmoral" basiert nicht auf mehr auf der Unterscheidung von Gut und Böse, sondern beinhaltet ein von den eigenen Handlungen unabhängiges positives Selbstverhältnis und die Verachtung für Verlierer, so daß Nietzsches Philosophie als Spielart des Amoralismus angesehen werden kann.
Stirner wurde erstmals von Bloch in geistiger Nähe von Sade und Nietzsche gesehen.[8] Eine Gegenüberstellung von Sade und Nietzsche zu Kant wurde von Adorno versucht[9], ihr zufolge mündet Aufklärung in moralfreie Zweckrationalität und macht eine Aufklärung der Aufklärung über sich selbst nötig.
Die Figur des Amoralisten kommt auch in verschiedener Weise vor bei vielen Ethikern, die sich zum Zweck der Moralbegründung vom Amoralismus abgrenzen. So hat z. B. Habermas das Kohlbergsche Modell der moralischen Entwicklung ergänzt um Stufe 4½. Hare unterschied alle möglichen Typen von Moralgegnern[10][11][12].
Inhalte des Amoralismus
Amoralismus richtet sich gegen:
- die Morallehren aller Religionen, z. B. die Zehn Gebote des Alten Testaments, die Gebote der Nächsten- und Feindesliebe des Neuen Testaments, die 10 ethischen Grundprinzipien des Buddhismus, die 5 Pfeiler des Islam, die Ethik des Konfuzianismus, die Moral des Hinduismus,
- die Goldene Regel,
- den Kategorischen Imperativ von Kant,
- das Grundprinzip des Utilitarismus, daß Einzelne das Glück aller anstreben sollen,
- die Tugendethik nach Aristoteles,
- die Mitleidsethik von Schopenhauer,
- die Ehrfurcht vor dem Leben von Albert Schweitzer,
- das Prinzip des Ahimsa von Gandhi,
- das Projekt Weltethos von Hans Küng,
- Menschen- und Tierrechte als Handlungsorientierung für den Einzelnen,
- den Ethischen Egoismus, der das je eigene Wohl als obersten moralischen Wert ansieht.
Amoralisten lehnen auch alle Vorstellungen von Sünde, Schuld, Scham, Ehre, Wert, Pflicht, Reue, Buße, geistiger Reinheit, Gewissen, Karma, Solidarität, Verbindlichkeit und Verantwortung ab, die mit Sollens-Vorstellungen einhergehen und nicht bloße Fakten von Gefühlen oder Kommunikationsstrukturen beschreiben. Amoralisten sind Zyniker und sehen in sozialer Kompetenz, Höflichkeit, Umgangsformen, Rücksichtnahme und Einhaltung gesellschaftlicher Konventionen keine Form, Menschen als Selbstzweck zu behandeln, sondern nur ein wichtiges Mittel zur Erreichung anderer Zwecke, das jederzeit gemäß zweckrationalen Maßstäben aufgegeben werden kann. Amoralismus unterscheidet sich somit grundlegend von Jugendrebellion, in der bewußt Konventionen gebrochen werden.
Der logische Unterschied zum Ethischen Egoismus ist in den historischen Quellen zumeist nicht reflektiert. Amoralismus wird auch als Nihilismus bezeichnet, obwohl jener Begriff eine weniger klar umrissende Bedeutung hat.
Amoralismus wird oft als Skeptizismus bezüglich ethischer Werte rekonstuiert. Aber Amoralisten richten sich nicht nur gegen alle kognitivistischen Richtungen der Ethik, indem sie zusammen mit den nonkognitivistischen Ethikern behaupten, daß es keine objektiven Werte gibt, die man erkennen könne, sondern auch gegen alle nonkognitivistischen Richtungen. Gegen präskriptivistische Ethiker protestieren sie, daß sie keine Gründe sehen, Aufforderungen zu moralischem Verhalten, immer zu befolgen. Zur emotivistischen Richtung der Ethik meinen sie, daß sie nicht immer moralische Gefühle haben, da ihnen viele Leute auch einfach gleichgültig oder unangenehm sind.
In Bezug auf Sigmunds Freuds Psychoanalyse verzichten Amoralisten auf die psychische Instanz des Über-Ich oder eliminieren dessen Einfluß. Außerdem lehnen sie Freuds Vorstellung der Transformation der polymorph-perversen Sexualität hin zu einer Ausrichtung auf heterosexuelle Vaginalpenetration als Ziel einer Entwicklung zu angeblicher persönlicher Reife ebenso ab wie Freuds Forderung "Wo Es war, soll Ich werden", da sie in diesen Vorstellungen nur verkappte Moralvorschriften sehen.
Praktischer Amoralismus
Inkonsequente Tendenzen zu amoralischen Denk- und Handlungsweisen sind populär und weit verbreitet, z. B. in der Volksweisheit "Der Ehrliche ist immer der Dumme" oder bei schwer zu verfolgenden Delikten wie Steuerhinterziehung, Schwarzfahren, Ladendiebstählen, aber auch Korruption, Vergewaltigung, Sklaverei und Tötung in Armuts- und Kriegsgebieten.
Amoralismus als kulturelles Phänomen ist eine ungewollte Konsequenz der 1968er-Bewegung. Innerhalb derselben wurden gleichzeitig auf allen Ebenen des menschlichen Lebens die vormaligen Mechanismen der Verankerung moralischen Handelns im Lebensvollzug in Frage gestellt oder praktisch aufgeboben: Die Beschränkung von Sexualität auf die Ehe wurde gekappt. Abtreibung, Bi- und Homosexualität wurden gesellschaftsfähig. Das Senioritätsprinzip wurde zugunsten des Jugendkultes aufgegeben, der Gehorsamsanspruch von Erziehenden in der antiautoritären Erziehung negiert. Pflichterfüllung galt als Spießertum, Sekundär- und auch Primärtugenden verloren ihre Bedeutung. Die Geschlechterrollen wurden in Frage gestellt. Es fand eine Abkehr von der christlichen Religion oder deren Vorstellungen von der Sündhaftigkeit des Menschen statt. Gewalt gegen Sachen galt einigen als legitim. Verachtet wurden aufgrund des 2. Weltkrieges auch soldatische Tugenden wie Selbstopferung, Dienst für das Vaterland und Disziplin. Drogen fanden weite Verbreitung. Pornographie wurde legalisiert und im Laufe der Zeit über verbesserte Videotechnik immer stärker verbreitet. Einer der Leitsprüche war: "Es ist verboten zu verbieten." Diese Elemente der Kulturrevolution sollten zwar nicht zur Aufhebung von Moral überhaupt, sondern der Überwindung irrationaler und negativ bewerteter Sitten führen. Die Abschaffung kulturell akzeptierter Vermittlungs- und Sozialisierungsmethoden für akzeptables Verhalten hat aber nicht nur zu einer Adaption neuer Hippie-Werte wie allgemeine gegenseitige Liebe, Harmonie, Gewaltfreiheit und Dialog geführt, sondern teilweise auch einfach zu einem kompletten Infragestellen von Verbindlichkeit und Moral überhaupt und häufig zu Gleichgültigkeit gegenüber Mitmenschen.
Amoralische Figuren in Literatur und Film
- André Gide, L'Immoraliste
- Franz Moor in Friedrich Schiller, Die Räuber
- Dorian Gray in Oscar Wilde, Das Bildnis des Dorian Gray
Amoralismus ist meist auch ein impliziter Teil der Haltungen der Negativ-Protagonisten in Fantasy- und Science-Fiction-Geschichten, die einen Gut-Böse-Konflikt beinhalten, z. B. der Sith aus Star Wars, vonKhan und Shinzon aus Star Trek, Lex Luthor aus Smallville oder Voldemort aus Harry Potter.
Kritik am Amoralismus
Der Amoralismus wird kritisiert durch das Vorbringen von Moralbegründungen.
Quellenangaben
- ↑ Platon, Politeia
- ↑ Platon, Gorgias
- ↑ Mandeville, Bienenfabel
- ↑ D.A.F. de Sade, Justine oder die Leiden der Tugend, und, Juliette oder die Wonnen des Lasters
- ↑ Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum
- ↑ Friedirch Nietzsche, Genealogie der Moral
- ↑ Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse
- ↑ Iwan Bloch, Der Marquis de Sade und seine Zeit, 1978 Heyne
- ↑ Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Exkurs II : Juliette oder Aufklärung und Moral
- ↑ R.M. Hare, Freiheit und Vernunft, Suhrkamp, 1983 Frankfurt
- ↑ R.M. Hare, Moralisches Denken - Seine Ebenen, seine Methode, sein Witz, übersetzt von Christoph Fehige und Georg Meggle, Suhrkamp, 1992 Frankfurt
- ↑ R.M. Hare, Satanism and Nihilism, in: Essays on Religion and Education, 1992d
Literatur zu Amoralismus
- Arno Baruzzi, Sade in: Aufklärung und Materialismus im Frankreich des 18. Jahrhunderts, 1968 List Verlag KG
- Elmar Waibl, Die Kritk des Kontraktualismus in Marquis de Sades erotomanischen Anarchismus in: Wiener Jahrbuch für Philosophie, Band 17, 1983 Wien
- Slavoj Zizek, Liebe deinen Nächsten? Nein, danke! - Die Sackgasse des Sozialen in der Postmoderne, 1999 Verlag Volk und Welt, Kant mit (oder gegen) Sade? S. 25 - 51
Literatur zu Moralismus
- Lübbe, Hermann: Politischer Moralismus: Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft. Siedler, Berlin 1987