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Donnerstag, 9. Oktober 2025

Great Women #433: Lina Loos

Als meine Tochter vor knapp sieben Wochen auf einer Reise nach Pilsen bei einer Stadtführung war, schickte sie mir eine Nachricht: "Du, ich hab da ne Frau für dich entdeckt: Lina Loos." So kam es zum heutigen Beitrag. Denn am heutigen Tag vor 143 Jahren kam sie auf die Welt.


"Ich will aber durch das Leben geformt werden, 
nicht von einem einzelnen Menschen."
.....
"... der 'Sinn der Menschheit' liegt in allen Menschen 
ohne Ausnahme und ohne Auswahl!"


Lina Loos wird also am 9. Oktober 1882 als Carolina Catharina Obertimpfler, jüngstes Kind der Caroline Ockermüller und ihres Ehemannes Carl Obertimpfler, in Wien geboren. 
Das Haus mit dem Café

Der Vater, ein Handelsmann, stammt aus der Wiener Neustadt, die Mutter aus einer wohlhabenden Bauernfamilie in Sieghartskirchen im niederösterreichischen Bezirk Tulln. Die theaterbegeisterten, vermögenden Großeltern haben in Wien den "Adlerhof" gekauft und sind so zu Stadtbürgern geworden. Das ist für die damalige Bevölkerungsentwicklung Wiens typisch, dieser Zuzug aus der Provinz.

Bei der Eheschließung 1873 erhält Caroline Ockermüller als Mitgift das damals angeblich größte Delikatessengeschäft Wiens, den Salzer am Lichtensteig. Schon 1874 haben das Ehepaar einen Sohn, den künftigen Schauspieler Karl Forest, sowie 1875 eine Tochter, die spätere Schriftstellerin Helene Dülberg, bekommen.

Zunächst wachsen die Kinder im Wohlstand mit Gouvernanten auf. Warum die Familie anschließend verarmt und umziehen muss, ist nicht herauszufinden. 

Die Mutter wird Teilhaberin einer Essigfabrik, der Vater wird über diverse Zwischenstationen in der Gastronomiebranche Mitglied der Wiener Kaffeesiedergenossenschaft und erwirbt 1897 das "Grand Café Casa Piccola" in der Mariahilfer Straße, wo sich Künstler, Bohémiens und Literaten zum regen Austausch treffen. Ab 1904 befindet sich über dem Café der Modesalon "Schwester Flöge" der Klimt-Freundin Emilie Flöge ( siehe dieser Post ). Die Bohème wird zur selbstverständlichen Umgebung des jungen Mädchens. 

Die wieder wirtschaftlich stabile Situation der Familie - die Ehe der Eltern Obertimpfler ist wohl eine rechte Hölle - macht es ihr möglich, die Anregungen des Kulturlebens aufzunehmen und zu ihren Bedürfnissen zu machen. Lina besucht das Konservatorium, nimmt dort am Schauspielunterricht teil und ist schon in sehr jungen Jahren eine stadtbekannte Schönheit, entspricht sie doch einem bestimmten Frauenbild der Wiener Intellektuellenszene, der Kindfrau oder femme enfant, dem süßen "Wiener Mädel".

"Weibliche Entdeckungen" vom Theater werden in jenen Tagen bei "Herrenrunden" wie dem Stammtisch des Schriftstellers Peter Altenberg trophäenartig herumgereicht und begutachtet. Im schlimmsten Fall werden sie, da in der Gesellschaft, ähnlich wie Tänzerinnen, als "unsittlich" gebrandmarkt, in der Männerwelt als Gelegenheit für außereheliche Beziehungen missbraucht ( siehe auch dieser Post ). Die diese Zeit prägende Frauenverachtung eines Otto Weiningers ( "Das Weib besitzt kein Ich, das Weib ist das Nichts" ) wird nur vordergründig übertüncht durch die Schwärmereien eines Altenbergs oder die farbenprächtigen Darstellungen des Malers Gustav Klimt.
Mit Peter Altenberg
(1900)

Lina wird von ihrer Schwester Helene beim Stammtisch Altenbergs im "Löwenbräu" in der Teinfaltstraße hinterm Burgtheater eingeführt. Peter Altenberg, der Prototyp des Wiener Kaffeehausliteraten, schwärmt ausgiebig von Linas "wunderbare[n] aschblonden Haaren, ihre[n] hechtgrauen Augen, ihre[r] ambrafarbige[n] Haut" ( Quelle hier ), stilisiert Lina hinauf zu einem unerreichbaren Göttinnenwesen. Bei ihm heißt sie immer  "die silberne Dame", "Heldenreizerin" und ist die "Ljuba" seiner Prosagedichte .

Doch Lina entspricht dem allem nur eingeschränkt. Schon ihre Großmutter ist eine eigenständige, resolute Persönlichkeit gewesen, und Linas selbstbewusste Mutter, eine "leidenschaftliche Geschäftsfrau" und von "ureigenstem Urteil", unterstützt die Tochter in deren Unabhängigkeitsdrang. Die trägt die modernen, weit flatternden Reformkleider und geht – für Frauen unerhört - allein ins Kaffeehaus, lebt sie doch durch das väterliche Café am Puls der legendären "Wiener Moderne".

Wenn frau Peter Altenberg trifft, dann muss frau zwangsläufig Adolf Loos, seinen 31jährigen Freund, aus dem mährischen Brünn stammend, Architekt, Wegbereiter der Moderne und Ornamentverweigerer, begegnen. Abgesehen von seinen Verdiensten um die Architektur ist Loos ein mehr als merkwürdiger Mensch. So ist er z.B. der Meinung, dass die Kaisersemmel dem Wiener deshalb so gut schmeckt, weil der rohe Teig sieben bis acht Mal mit der schweißnassen Hand berührt werden muss.

Als der blutjungen Lina eine Zigarettendose, die Loos als Anschauungsobjekt für einen seiner Design-Monologe verwendet hat, herunterfällt & zerbricht, erkundigt sie sich, wie sie den Schaden wieder gutmachen könne.  "Heiraten Sie mich!", erwidert der postwendend, so die Legende. "Du bist die Welt, der Kosmos, das Universum – eingezwängt in einen kleinen Frauenleib", schreibt er in der Verlobungszeit - da ist sie wieder, die Kindfrau, vielleicht nichts als ein hübsches kleines "Dummerl".

Ein halbes Jahr später wird die Heirat in die Tat umgesetzt. Loos hat also einen Erfolg bei der Schönen, den ihm Altenberg schwer missgönnt. Der soll sein Trauzeuge sein, ist aber "nicht zu bewegen, so früh aufzustehen", um den Wunsche seines Freundes nachzukommen. Das Paar macht sich per Kutsche auf den Weg nach Eisgrub ( heute Lednice/Tschechien ) in Südmähren, wo ein Onkel von Loos sie am 21. Juli 1902 in der Schlosskapelle des Fürsten Liechtenstein traut. 

1904

Wichtig ist Loos zum einen die Möglichkeit, der blutjungen Frau als ihr zwölf Jahre älterer Mann fortan zu erklären, wie sie die Welt, ihre Zukunft, aber auch die Vergangenheit zu sehen hat, und suggeriert auf diese Weise, ihr Leben beginne erst jetzt mit seinem Erscheinen. Loos zweite Ehefrau wird ihn & seine Anschauungen später so zitieren:

"Wenn die Braut nicht als Jungfrau ins Brautbett steigt, kann sie vielleicht herausfinden, daß ihr Mann gar nichts Besonderes ist, aber die Jungfrau hat keine Vergleichsmöglichkeit, denn sie kennt nichts anderes. Das ist der springende Punkt."

Loos behandelt sie entsprechend. Dass Lina eine Schauspielschule besucht, wertet er ab: "Die ganze Schul war ja nur zum Zeit ausfüllen." "Du wolltest dich selbst erweitern in mir", wird sie ihm in ihrem späteren Schauspielstück "Wie man wird was man ist" ( erst posthum 1994 veröffentlicht ) sagen...

Wichtig ist ihm aber auch auch das bürgerliche, wohlsituierte Gastronomenmilieu, in das der Architekt nun einheiratet, denn das junge Ehepaar wird von den Brauteltern finanziell stark unterstützt. Loos betreibt einen äußerst aufwendigen Lebensstil, es geht ihm aber sowohl gesundheitlich wie finanziell nicht gut. Er leidet an den Nachwehen einer Syphiliserkrankung und ist außerdem von seiner Mutter enterbt worden. Er hat keine eigene Wohnung mehr und lebt vorwiegend in diversen Hotels. 

Dank Lina kann er sich häuslich niederlassen. Die bis heute bekannte Wohnung liegt in der gegenwärtigen Bösendorferstraße, wird von den Schwiegereltern gezahlt und von Loos ganz in seinem Sinne ausgestattet ( die Einrichtung befindet sich heute im Wien Museum ). 

In dieser Wohnung verfestigt er quasi seinen charakteristischen, architektonischen Stil. Berühmt- berüchtigt ist das sterile weiße Schlafzimmer mit weißen Kaninchenfellen auf dem Boden (sogleich veröffentlicht in Altenbergs Zeitschrift "Kunst" ). Doch das ist kein Garant fürs Eheglück.

Solange sich Lina das alles gefallen läßt und dem autoritär-rigiden Loos folgt und ihn unterstützt, geht es einigermaßen gut. Als praktisch veranlagte, dienstbare Ehefrau hält Lina Probleme und "Allfälliges" von ihrem Mann fern, so dass dieser in der kurzen Zeit, die sie an seiner Seite verbringt, so viele Projekte wie nie wieder in seinem ganzen Leben erarbeiten kann. Seine finanziellen Krisen - er gibt halt gerne mit beiden Händen aus - bleiben in erster Linie an ihr hängen, denn sie muss die vor der Tür stehende Gläubiger mithilfe ihrer Ausstrahlung & vieler schöner Worte abwehren. Nach zwölf Monaten steht ihr der Sinn aber nicht mehr nach ehelicher Selbstaufgabe, sondern wohl eher nach Selbstverwirklichung:

Der Auserwählte für eine Affäre ist ein 18jähriger Maturant des Akademischen Gymnasiums, Heinz Lang, Sohn der in den progressiven Kreisen Wiens bekannten Frauenrechtlerin Marie Lang, in denen auch das Ehepaar Loos verkehrt, Bruder von Erwin Lang, der an einem Nacktporträt Linas malt. Heinz Lang nimmt die Affäre wohl leider viel ernster als die 20-jährige Ehefrau und hofft, sie würde mit Adolf Schluss machen und zu ihm reisen, als er nach bestandener Matura nach England geht. 

Als Adolf Loos Langs Liebesbriefe entdeckt, beendet Lina das Verhältnis und zieht sich auf Empfehlung von Adolf Loos nach Tirol bzw. an den Genfer See und zur Kur in Vevey zurück. Heinz Lang bittet fatalerweise Altenberg um Rat, der ihm – nach den Aufzeichnungen Hugo von Hofmannsthals – antwortet: "Was Sie tun sollten? Sich erschießen. Was sie tun werden? Weiterleben. Weil sie so feig sind wie ich, so feig wie die ganze Generation, innerlich ausgehöhlt, ein Lügner wie ich." Der junge Mann, dessen Lebenszeit zu kurz gewesen ist, um mit Sinn für Ironie ausgestattet zu sein, nimmt den ersten Teil des Rates an und erschießt sich im August 1904. 

Wien hat wieder mal seinen Skandal, Arthur Schnitzler macht daraus ein Stück und viele geben Lina Loos die Schuld an diesem Suizid. 

"Es waren jedoch eher die Rituale einer sich überlebt habenden Gesellschaft, die weithin herrschende Doppelmoral und die potemkinschen Scheinwelten, an denen viele Menschen, auch die an sich fortschrittlich denkende Lina Loos, weiterhin festhielten, die zu diesem Unglück geführt hatten", urteilt Michaela Lindinger ( Quelle )

Lina entflieht der Aufregung im Januar 1905 zur Theatertruppe von Heinrich Conried in die Vereinigten Staaten, wo sie unter dem Namen Cary Lind die Luise Miller in Schillers "Kabale und Liebe" in New Haven spielt. Sie kehrt aber schon im Mai nach Europa zurück. Die "Trennung von Tisch und Bett" von Adolf Loos erfolgt dann gleich im Juni. Die heute übliche zivilrechtliche Scheidung ist in der Monarchie und auch lange danach juristisch nicht vorgesehen. Legal ist, basierend auf der damaligen Rechtslage, die noch bis 1978 Bestand haben wird, dass jegliches Eigentum der Frau mit der Eheschließung in das Eigentum des Mannes übergeht, so dass Lina ihre Wohnung in der Bösendorferstraße verlassen muss. Sie kommentiert den Sachverhalt im Nachhinein:

"Wir werden darauf bestehen, daß Frauen, welche Möbel und Wohnung mitbringen, wenn sie heiraten, eine solche Wohnung auf ihren Namen schreiben lassen, sodaß sie bei einer eventuellen Scheidung nicht einfach vor die Tür gesetzt werden können."

Ihre kurze Ehe trägt ihr fortan das Prädikat "die Frau von" ein. Doch sie ist kein Zubehör:

1911
In ihrem Stück, in dem sie ihre Ehe reflektiert, antwortet Lina auf die Frage ihres Mannes, was denn nun aus ihr werden solle nach ihrem Ehe-Aus: "Ich selbst.

Bald nach der Scheidung bezieht sie eine ruhige, von grünen Weinhängen umgebene Wohnung in der Sieveringer Straße 107. Diese Wohnung, die zunächst nur als Sommerwohnung gedacht ist und noch von Loos gestaltet, wird ihr neuer Lebensmittelpunkt. Die sachlich-bescheidene Ausstattung entspricht allerdings ganz ihren Bedürfnissen.

Es bildet sich später auch eine Art Salon um diesen Ort, wo sie sich mit ihrem Freundes- und Bekanntenkreis zum regelmäßigen Austausch trifft.

1906 schreibt Peter Altenberg in einem Brief an sie: "In diesem Blick liegt die Unabhängigkeit von der Mann-Sklaverei!... für mich sind Sie das Opfer allerschamlosen Sexualität des Mannes, dem nichts heilig und künstlerisch ist..."

1907 muss Lina wegen eines Lungenleidens  mehrere Monate in einem Sanatorium im Schwarzwald verbringen, 1914 noch einmal in Davos.

Dafür, das sie von sich sagt: "Ich möchte lieber gar nichts arbeiten", ist sie eine recht umtriebige Frau. Irrwitzigerweise ist es Alfred Loos gewesen, der Lina den Weg zu Publikationen im Feuilleton gewiesen hat, als er 1904 einen ihrer Briefe im "Neuen Wiener Tagblatt" veröffentlicht hat. Darin hat sie nämlich die Schwäche der Zeitgenossen, Kirchen stilbrechend zu renovieren, kritisiert - ganz im Sinne ihres Mannes.

Weiteren Zeitungsveröffentlichungen nach der Trennung folgt ein weiteres Theaterengagement in Amerika, als Lina Lind gastiert sie 1906 in St. Petersburg, 1907 als Linda Vetter wieder in Wien. Ihr ist für ihre Selbstbestimmtheit elementar, auf eigenen Beinen zu stehen. Schauspielerei und feuilletonistische Schriftstellerei sind zu dieser Zeit die typischen Berufsbilder für kreativer Frauen. Es gibt Belege, dass Lina diese Tätigkeiten aber nicht aus Berufung & Leidenschaft betreibt, sondern sie ihr Mittel zum Zweck des finanziellen Überlebens sind:

"... nachdem ich aber leider einen Beruf ausüben muß, so bin ich am liebsten beim Theater. In den meisten weiblichen Berufen versäumt man nur acht Stunden des Tages 'Leben'! Im Theater fühlt man die Zeit noch intensiver, ja man erlebt noch unerlebtes Leben dazu. Für Menschen, die nicht gern etwas versäumen, ist es ein guter Beruf, auch wenn man nicht zu den ‚Berufenen‘ gehört."

Gänzlich finanziell auf sich allein gestellt wird sie aber erst nach Ende des 1. Weltkrieges sein, als ihre Eltern die "Casa piccola" aufgrund ihrer ökonomisch prekären Lage verkaufen müssen und ihre Tochter nicht mehr unterstützen können. Der Vater hat sein gesamtes Vermögen in Kriegsanleihen angelegt und verloren. Er ist danach aber immer noch im Kaffeehaus tätig, bis er im Februar 1927 stirbt. DieMutter lebt schon seit 1921 nicht mehr.

Von links nach rechts: Franz Theodor Csokor, Adolf Loos, Egon Friedell
Lina schreibt Texte, hauptsächlich Feuilletons und Essays, in verschiedenen Zeitschriften und Zeitungen, darunter das "Neue Wiener Journal", das "Neue Wiener Tagblatt", der "Querschnitt" und "Die Dame". Ihre Beiträge zeichnen sich durch Mutterwitz aus. Am schönsten sind ihre Beobachtungen der normalen "Leut" beim Heurigen & im Kaffeehaus - zutiefst wienerisch.

Die "Kunst der Lina Loos", besteht also darin, dass "sie Alltagsthemen auf eine pointierte, zugängliche Art und Weise zu vermitteln vermag, ohne obsolet oder trivial zu sein. Ihre Worte wirken zunächst beinahe „naiv“, üben aber auf leichtfüßige Manier Gesellschaftskritik, demaskieren subtil doppelmoralische Geschlechterstandards oder andere soziale Disparitäten", urteilt an dieser Stelle Anja Krobath.

Ab 1927 werden ihre Feuilletons fixer Bestandteil der Wochenausgabe des "Neuen Wiener Tagblatts", eine der auflagenstärksten Zeitungen Österreichs. Im Feuilleton veröffentlicht sie auch Aphorismen, deren Zynismus bis heute kaum an Biss verloren hat. Peter Altenberg scheint ihr ein stilistisches Vorbild zu sein. Heutzutage wird Lina Loos als die als die "weibliche und durchaus feministische Seite der Wiener Kaffeehausliteratur" angesehen (Gürtler und Schmid-Bortenschlager). Männer & die Ehe kommen bei ihr nicht gut weg: 

"Aber ich kann meine Schadenfreude nicht verhehlen, wenn ich lese und sehe, was die Männer mit ihrer Gescheitheit aus der Welt gemacht haben - schlechter hätten wir Frauen es auch nicht machen können. Vielleicht auch nicht besser, denn die seinerzeit gelieferte Männerrippe scheint nicht erstklassig gewesen zu sein." ( Quelle hier )

Schauspielernd ist sie auch in Berlin, Leipzig, Frankfurt/Main und München anzutreffen, daneben als Diseuse auch in Kabaretts wie dem "Nachtlicht" und unter ihrem Künstlernamen Lina Vetter in der Folgeeinrichtung "Fledermaus", der Heimstätte des klassischen Wiener Kabaretts in der Kärntner Straße. Bei der Eröffnung des Etablissements darf sie den Prolog sprechen. "Hauspoet" ist Peter Altenberg und ab 1908 Egon Friedell, der Lina ebenfalls wie so viele andere berühmte Zeitgenossen zeitlebens verehren wird: Er betrachtet sie als sein "Lebensmensch", "seine Madonna". Seinen Heiratsantrag lehnt sie ab. Auch seine Muse mag sie nicht sein. "Ich suche einen Mann der mich liebt - als Lina Loos." Für sie bleibt er ein wichtiger Freund, eben nur nie Liebhaber. Stattdessen verlobt sie sich mit einem Dr. Herbert Fries aus einer Familie, der die Inzersdorfer Nervenheilstätte gehört, in der auch Peter Altenberg & Josef Weinheber Hilfe gesucht haben. Fries wird allerdings in den ersten Kriegstagen in Russland fallen.

In Friedells berühmten "Goethe" - Sketch in der "Fledermaus" tritt sie als Freundin des Abiturienten Friedell auf. Theater und Leben zeigen wechselseitige Beziehungen. Das Stückerl geht mehrere Hundert Mal über die Bühne und wird noch heute gelegentlich von Gymnasiasten aufgeführt. Lina wird als "anmutige und reizende Diseuse" beschrieben, die aber nur "Belanglosigkeiten" zu bieten hat.

Aber nicht nur Männer zieht Lina in ihren Bann, auch Frauen wie Alma Mahler, Berta Zuckerkandl (siehe auch dieser Post ) oder Grete Wiesenthal, die Tänzerin, besuchen gerne ihren Salon. Sie verkehrt nach wie vor unermüdlich in der Wiener Kaffeehausszene - nach dem Krieg bevorzugt im Café Central - rund um Altenberg, Friedell, aber auch Alfred Polgar, einer der bekanntesten Autoren der Wiener Moderne, und Franz Theodor Csokor, Dramaturg am Volkstheater, in dessen Ensemble Lina Mitglied sein wird, sowie der berüchtigte Karl Kraus. 

Die Beziehung mit Csokor entwickelt sich zu einem Liebesverhältnis, aus dem eine lebenslange Freundschaft werden wird – für ihn bleibt sie sein "Lebensmensch". Doch Lina mag einfach nicht als Frau überhöht werden, sie mag auch nicht die "Freie Liebe ich bin für die Befreiung der Liebe, das ist etwas ganz anderes."

"Sie sind eine Rahmabschöpferin des Lebens", meint Altenberg, der 1918 stirbt, zu ihr. Und Lina entgegnet:"Und das bin ich, weil ich schon früh erkannt habe - obenauf schwimmt die Sehnsucht!"

1921 spielt Lina am Raimundtheater und wird 1924 Mitglied des Deutschen Volkstheaters in Wien, an dem zuvor schon ihr Bruder Karl Forest gespielt hat. Beide Theater werden vom avantgardistischen Rudolf Beer, einem Theaterenthusiasten von unerschöpflicher Vitalität geleitet. Dort wird im gleichen Jahr ihr Einakter "Mutter" zum 10. Jubiläum des internationalen Frauentags uraufgeführt. 

Bis 1933 bleibt sie dabei. Dann meldet sie sich zu einem "Kurzdrama" in der Nervenheilanstalt Steinerhof an. Dort stellt sie fest, dass ihr Leben "netter" ist als am 21. Juli 1902. Kurz danach stirbt Adolf Loos mit 62 Jahren.

Lina folgt schließlich Rudolf Beer an das von ihm geleitete Theater "Scala". Sie ist zumeist nur noch in kleinen Rollen zu sehen, denn sie leidet furchtbar an Lampenfieber. 1938 beendet sie die Schauspielkarriere, denn am Theater in der Josefstadt will sie nicht spielen, weil damit ein Bekenntnis zum Nationalsozialismus verbunden ist.

Zusammen mit dem bekannten Schauspieler Rudolf Forster wagt Lina sich 1937 noch einmal an etwas Neues: ein ausführliches Treatment für einen Tonfilm: "Schau in die Ewigkeit (Legende vom inneren Licht)". Doch aus dem Manuskript wird kein Film, obwohl sich Lina das primär aus ökonomischen Gründen gewünscht hätte.

Über Österreich wird der Himmel dunkel, aber auch der persönliche über der nunmehr bald 56 Jahre alten Lina Loos:
Am 16. März 1938 springt Egon Friedell - Lina: "Wir waren vierzig Jahre befreundet!" -aus einem Fenster seiner im 3. Stock gelegenen Wohnung, während die Haushälterin mit den Gestapo-Männern spricht. Nach einer Verhaftung und schweren Misshandlung durch die Nationalsozialisten nimmt sich Rudolf Beer am 9. Mai 1938 das Leben. Franz Theodor Csokor kann noch nach dem "Anschluss" nach Polen emigrieren, bis er über Bukarest & Belgrad weiter nach Korcula flüchten muss. Alfred Polgar ist mit seiner Frau gerade in Zürich, darf ohne Arbeitserlaubnis nicht bleiben und flieht weiter nach Paris. Dr. Ilse Friedmann, eine Cousine Friedells, und ihre Lebensgefährtin Margarete "Gretl" Gerngross, Tochter eines ehemaligen Warenhausbesitzers von der Mariahilferstraße, beide aus dem engeren Kreis um Lina, begehen Anfang September 1939 gemeinsam Selbstmord. 

Ihr selbst blieb nichts anderes übrig als "im Reich des Antichristen" ( Friedell ) zu verbleiben. Da soll frau sich nicht zurückziehen? So wirklich tut Lina Loos das eben doch nicht: Am 9. November 1938 in der Progromnacht sucht sie die Stätten der Ausschreitungen und Verwüstungen auf und sagt immer wieder laut und deutlich die Worte: "Ich bin Zeuge!" - "Ich bin Zeuge". Glücklicherweise wird sie nicht verhaftet. 

Lina kämpft jetzt, da spielunfähig, um eine Invaliditätspension und bekommt schließlich eine Rente von 81,90 Reichsmark zugesprochen. Obwohl selbst gesundheitlich beeinträchtigt, kümmert sie sich noch um ihren kranken und mittellosen Bruder. Karl Forest wird letztendlich im Rahmen der "Euthanasie" im Wiener Altenheim Lainz am letzten Maitag 1944 durch eine Luftinjektion ermordet werden.

Neben der Lungenerkrankung macht ihr auch eine solche der Niere zu schaffen, aber besonders intensiv leidet sie "wie ein Hund an dieser Zeit". Ihre Freundin Leopoldine Rüther, eine Illustratorin, die sie in den 1930er Jahren kennengelernt hat, betreut Lina in ihrer Sieveringer Wohnung. Von Csokor wird sie aus dem Ausland immer wieder finanziell und durch Pakete unterstützt.

Bis 1943 verfasst sie noch ab und an Artikel für das "Neue Wiener Tagblatt". Sie arbeitet an einem philosophischen Werk mit dem Titel "Primitive Vorstellungen einer Frau vom Uranfang bis zum Ende allen irdischen Geschehens", eine Art Collage aus Bildern, Zeichnungen, Erzählungen, Reflexionen über die verschiedenen, grundlegenden Aspekte vom Sinn des menschlichen Seins. Der Entwurf bleibt Fragment, und Lina selbst verbirgt dieses Denkgebäude vor ihrer Umgebung. Sie schreibt außerhalb des Feuilletons vor allem für sich selbst, denn die meisten ihrer Werke landen in der "Schreibtischlade, die ‚Causa‘ als erledigt betrachtend". Nur wenige Texte werden noch zu Lebzeiten den Weg aus dieser Lade nehmen. Was ihr gelingt, ist ein Gedankengebäude zu errichten, aus dem sie Kraft ziehen kann, wo ihr doch eine äußere Flucht unmöglich ist.

Noch während des Krieges tritt sie dem"Österreichischen Friedensrat" bei und wird Vizepräsidentin des "Bundes demokratischer Frauen". In ihren autobiografischen Aufzeichnungen schildert Lina die letzten Kriegstage und den Einzug der sowjetischen Besatzungsmacht. Sie berichtet, sie habe die Sowjetsoldaten durch die Übergabe von Brot und Salz, einer alten Willkommens- und Friedensgeste, umgestimmt, so dass Übergriffe in ihrem Wohnbezirk ausgeblieben sind. Doch das ist wohl nur die halbe Wahrheit: Auch ihre Wohnung wird ausgeplündert, manches auf der Bühne Getragene trägt sie nun im Alltag, sie steht in der Schlange beim kommunistischen Kulturstadtrat, um einen Zuschuss zu bekommen.

Das letzte Foto von Lina Loos
(1947 oder 1949)
Im Alter beginnt sie tatsächlich noch etwas Neues, publiziert wieder und engagiert sich zum ersten Mal in ihrem Leben politisch. Bisher eine ausgesprochene Individualistin, die sich Entfaltung des Individuums eingesetzt und die Verwirklichung eigener Lebensentwürfe, aktiviert sie sich sich nun in der Frauenorganisation, die der kommunistischen Partei nahesteht und ihr später angehört. Sie veröffentlicht im "Wiener Tagebuch" und in der "Stimme der Frau", der Zeitschrift des "Bundes demokratischer Frauen", dessen Vorsitzende die Architektin Grete Schütte-Lihotzky wird ( siehe auch dieser Post ). Lina Loos ist im Österreichischen Friedensrat aktiv und wird 1948 Mitglied im wiedergegründeten österreichischen PEN-Club.

1947 kommt ihr einziges Buch heraus, bezeichnenderweise "Das Buch ohne Titel" geheißen, illustriert von Leopoldine Rüther. Es enthält eine Sammlung von autofiktionalen Geschichten und feuilletonistisch-erheiternden Anekdoten – fast alle bereits in verschiedenen Zeitungen publiziert, also aus der Welt von gestern. Von der Presse wird es als Werk eines "weiblichen Altenbergs" gepriesen. Sie selbst scheint nicht eine so hohe Meinung von sich zuhaben:

"Ich habe eine berühmte Namensvetterin – Anita Loos -, die ein Buch geschrieben hat, ‚Blondinen bevorzugt‘, das ich nicht kenne. Es scheint aber ausgezeichnet zu sein, da niemand auch nur im Traum eingefallen ist, mich für die Autorin zu halten." 

Am 6. Juni 1950 stirbt Lina Loos qualvoll im Wiener Allgemeinen Krankenhaus an den Folgen eines "bösartigen Bauchfellgewächses". Ihren Körper gibt sie zur Obduktion frei. Ihr "Testament": 

"Ich bin mir nicht einmal immer klar darüber geworden, was eine große Idee ist. Heute weiß ich es: Sich einsetzen, zu kämpfen, wenn nötig zu sterben für das Wohl aller Menschen."
Das ist mal eine Quintessenz eines Menschenlebens, die möchte frau jedem auf die Agenda schreiben, dem die moralische Selbstdarstellung wichtiger ist als das eigentliche Anliegen, wie es im unterdessen sich nahezu krankhaft ausbreitenden Kulturkampf der Fall ist. Da geht es eben nicht drum, die Welt besser zu machen. So entwickeln wir uns nicht weiter.
 
Über vierzig Jahre dauert es nach ihrem Tod, bis der von Adolf Opel herausgegebene Band "Wie man wird, was man ist" durch die Publikation vieler unveröffentlichter Nachlasstexte die Entdeckung der anderen Lina Loos, nicht nur die "Frau von...", ermöglicht, eine die "schreibt, was sie will". 

Danke, liebe S., dass du so Anteil nimmst an meinen Interessen und mich auf sie aufmerksam gemacht hast! Dir widme ich diesen Post, denn du bist wie Lina der Überzeugung "sich vom männlichen Gehirn nicht mehr imponieren zu lassen - als unbedingt nötig ist". Gemeinsam haben wir diese Frau heute aus dem Schatten befreit.

                                                                                



 

Donnerstag, 12. Dezember 2024

Great Women #400: Karoline von Perin

Heute begebe ich mich auf völliges Neuland, auch wenn ich in den 2010er Jahren viel in Wien verbracht habe und mich dort etlichen historisch-kulturellen Phänomenen zugewandt hatte. Aber in puncto Frauen- bzw. Demokratie- Bewegung blieb vor lauter Sisi & Torten-Seligkeit - in Österreich ist es mit dem Erinnern so eine Sache - ein weißer Fleck. Den will ich für mich wie euch beseitigen und stelle Karoline von Perin vor, deren Todestag sich vorgestern zum 136. Mal gejährt hat.
"Ideen können nicht erschossen werden."
Hermann Jelinek (1822 — 1848) 

Karoline von Perin kommt als Karolina Rosalia Franziska von Pasqualati am 12. Februar 1806 in Wien zur Welt. Ihre Mutter ist Eleonore Fritsch, über die aber nichts weiter in Erfahrung zu bringen ist, ihr Vater Joseph Andreas Freiherr von Pasqualati, 22 Jahre alt. Die Pasqualatis sind 1784 in den erbländischen Ritterstand und 1798, ein Jahr vor dem Tod des Großvaters, in den Freiherrenstand erhoben worden. Das Mädchen wächst also in einer wohlhabenden, adligen Familie auf und wird noch einen Bruder, Moriz (*1810) und einen Halbbruder, Josef (*1813 oder 1815 ), bekommen. Karolines Mutter stirbt schon 1811, und das kleine Mädchen bekommt in Franziska von Thoren eine Stiefmutter.

Karolines Vater ist wie schon sein aus Triest stammender Vater Pomologe und "Blumist", zudem Obst- u. Gemüsegroßhändler und Besitzer der "Pasqualati’schen Pflanzen-Cultur-Anstalt" in der Vorstadt Rossau, die erst ab 1850 als 8. Bezirk der Stadt Wien zugeschlagen werden wird.  




Das Unternehmen des Vaters zeichnet sich - so Zeitzeugen - durch die reiche Auswahl der schönsten Blumen und Früchte aus, welche durch das ganze Jahr zu beziehen sind. Joseph von Pasqualati "scheut kein Opfer", sein Unternehmen nach allen Seiten hin zu erweitern und die verschiedenartigsten Spezialitäten aus fremden Ländern anzupflanzen. So stellt er auch ein Kirschlorbeerwasser her, was er über entsprechende Anzeigen Pharmazeuten anpreist. Das als Wohnsitz von Ludwig van Beethoven bis heute berühmte Pasqualati - Haus im 1. Wiener Gemeindebezirk an der Mölker Bastei gehört allerdings dem Onkel Johann Baptist Freiherr von Pasqualati, einst Leibarzt Maria Theresias, Freund & Gönner des Komponisten.

Schon im Jahr 1774 ist im Habsburgerreich die "Allgemeine Schulordnung für die deutschen Normal-, Haupt und Trivialschulen in sämmtlichen Kayserlich Königlichen Erbländern" in Kraft getreten, verfasst von einem Abt namens Ignaz Felbinger. Sie gilt für beide Geschlechter. Vorher haben sich vor allem die Klosterschulen um die Erziehung der Mädchen gekümmert. Felbinger legt nun fest, dass nur Töchter aus Adelshäusern ein breitgefächertes Wissen erhalten dürfen. Die Schulordnung sieht den Unterricht in "weiblichem Handarbeiten" und "Französisch" vor. Eine wissenschaftliche Ausbildung bleibt den den Mädchen verwehrt. Um ein "mehr" an Bildung zu erhalten, werden Kinder der höheren Schichten von Hauslehrern und Gouvernanten unterrichtet. Was davon für Karoline zutrifft, ist nicht bekannt.

1829
Biografisch tritt sie erst wieder in Erscheinung, als sie mit 24 Jahren ganz standesgemäß heiratet, und zwar Christian Freiherr von Perin-Gradenstein, K.u.K. Hofsekretär in der Staatskanzlei. Christian ist der einzige Sohn der damals namhaften Schriftstellerin Josephine Freiin Perin von Gradenstein und des K.u.K. Hofrates der geheimen Hof- und Staatskanzlei, Eberhard Perin von Gradenstein, den diese 1799 geheiratet hat. 

Mit ihrem Mann wird Karoline vier Kinder bekommen, wovon das erste noch im Säuglingsalter stirbt. Mit ihm, musikbegeistert, führt sie ein offenes Haus. Doch die Ehe nimmt einen tragischen Verlauf: Von Perin stirbt schon nach elf Ehejahren. Das sensibilisiert die Mutter von drei Kindern - zwei Töchtern und dem gerade geborenen Sohn Anton - schon sehr früh für die prekäre Situation von Alleinerziehenden. 
"Ihre Forderungen nach Gleichstellung mit den Männern sowie einer höheren Schulbildung für Mädchen, wiedergegeben in den Statuten des ersten Wiener demokratischen Frauenvereins, entsprangen keineswegs der spontanen Laune einer exaltierten Adeligen, wie man im ersten Moment vermuten würde, sondern waren nichts anderes als ein Resultat ihrer jahrelang selbst erlittenen familiären Situation", schreibt Lea Roma an dieser Stelle.

Alfred Julius Becher
(1844)
Sie lebt mit ihren Kindern in Penzing im 14. Wiener Gemeindebezirk, als sie Mitte der 1840er Jahre auf Empfehlung des Musikers und gesuchtesten Klavierlehrer Wiens, Joseph Fischhof, den Komponisten und Journalisten Alfred Julius Becher als Klavierlehrer für ihre Tochter Marie engagiert. 

Bald ist der der Mann an ihrer Seite, und sie leben ohne Legitimation von Kirche & Staat zusammen, durchbrechen somit die standesgemäßen Normen und hinterfragen durch diese Entscheidung die geltende Moral. Dadurch kommt es zum Bruch mit ihren Verwandten, was sie in ihrem Streben nach echter Gleichstellung von Frauen noch mehr anfeuert. 

Becher ist Herausgeber der revolutionären Zeitung "Der Radikale", die Karoline finanziell unterstützt. Er reift zu einer der führenden Persönlichkeiten der demokratischen Bewegung während der Revolution 1848 heran und zusammen werden sie bekannt als politisch engagiertes Paar.

Zum besseren Verständnis scheint es mir an dieser Stelle angebracht, "Ausflüge" in die Geschichte Österreichs jenseits unseres vom "Sisi- Kult vernebelten Bildes zu unternehmen:

In den drei Jahrzehnten vor 1848 herrschte im Kaisertum Österreich eine grundsätzliche Reformfeindschaft und eine totale Unbeweglichkeit innerhalb des Regierungssystems. Die größte Aufmerksamkeit erhält der Kampf gegen liberale und demokratische Gedanken.  Essenzielle Probleme im Reich bleiben hingegen ungelöst. 
Am 13. März 1848 erhebt sich schließlich in Wien das Volk gegen den Kaiser. Die Bauern haben es satt, viele Früchte ihrer Arbeit an die Lehensherren abzuliefern, die Arbeiter hungern, viele kämpfen ums Überleben. Der Adel lebt währenddessen in einer abgeschotteten, anderen Welt. Zwei Tage nach Beginn dieses revolutionären Aufstandes muss Kaiser Ferdinand I. die Zensur der Presse aufheben. Hunderte Broschüren, Zeitschriften und Zeitungen sprießen jetzt aus dem Boden. Am 25. April 1848 wird in Wien dann die erste Verfassung Österreichs erlassen, die die Aufständischen beruhigen soll, ihnen aber nicht wirklich Macht gibt: Das Parlament soll aus habsburgischen Erzherzögen, kaisertreuen Ministern, Großgrundbesitzern und anderen Männern mit Besitz bestehen, die dem Kaiser loyal ergeben sind. Einen Monat später, am 26. Mai, wird ein neuer Höhepunkt durch eine klassenübergreifende Solidarität mit den Aufständischen erreicht: Frauen der höheren Schichten verbünden sich jetzt mit den Frauen der Unterschicht. Alle Aufständischen gehen mit dem oben genannten Zweikammersystem, dem Zensurwahlrecht und dem Einspruchsrecht des Monarchen nicht konform.

Immer wieder flammt der Widerstand auf: Im August des Jahres senkt der Arbeitsminister Ernst Schwarzer Edler von Heldenstamm den Tageslohn von 8000 Erdarbeiterinnen, darunter auch Kinder, von 20 auf 15 Pfennige. Die  Frauen könnten mit Akkordarbeit ihr Gehalt ja aufstocken, so seine Begründung.  Das bedeutet allerdings die noch stärkere körperliche Ausbeutung der Frauen, die außerdem, verglichen mit ihren Männern, schon vorher benachteiligt worden sind: Die Männer bekommen nämlich einen Tageslohn von 25 Pfennig. Am 21. August 1848 demonstrieren nun Österreichs Frauen. Zwei Tage später säbelt die bürgerliche Nationalgarde sie nieder ( sogenannte Praterschlacht ). Es sterben 22 Menschen, ca. 300 werden verletzt.  

Auf Initiative von Katharina Strunz, die sich schon vorher damit hervorgetan hat, als sie mit anderen Bürgersfrauen den Kaiser aufgefordert hat, aus seinem "Exil" in Innsbruck nach Wien zurückzukehren, erscheinen daraufhin schriftliche Aufrufe an allen Straßenecken Wiens. Ziel: Die Gründung eines demokratischen Frauenvereins. Politisch interessierten Frauen wird nämlich in der bürgerlichen Vereinsform kein Platz neben den Männern zugestanden. 

Am 28. August 1848 findet im Salon des Volksgarten diese erste Versammlung statt. Laut Zeitungsberichten kommen zwischen 150 und 400 Frauen. Bei der Gründungsversammlung stehen drei Frauen auf dem Podium. Karoline von Perin wird die erste Präsidentin des Vereins. Sie ist Witwe und adelig, sie vertritt die Grundsätze der Emanzipation der Frauen, setzt sich für mehr Rechte für die Frauen ein. Damit scheint sie prädestiniert für eine solche Position und sie wird eine der wenigen Frauen aus der Wiener 1848er‑Bewegung werden, von der man mehr als ihren Namen kennen wird.

Einige Frauen gewanden sich an diesem Tag allerdings in die kaiserlichen Farben schwarz-gelb, womit sie sich für die alte Ordnung der Monarchie aussprechen und kundtun, dass sie an einer Einigung der durch die Praterschlacht gespaltenen revolutionären Bewegung nicht interessiert sind. Diese Gegnerinnen werden in tumultartigen Szenen von der konstituierenden Sitzung des Vereines ausgeschlossen, so dass die Männer, denen der Zutritt verweigert worden ist, den Saal stürmen können. Die Vereinsfreiheit für Frauen ist ihnen ein Dorn im Auge. Auch Nationalgardisten sind darunter, so dass die Sitzung am Nachmittag an einem anderen Ort fortgesetzt werden muss.

Zwei Wochen nach dem ersten Treffen wird ein Statut herausgegeben, entwickelt in der dritten Versammlung des Vereins. In § 2 des Vereinsstatuts heißt es zu den Zielen:

"Die Aufgabe des Vereins ist eine dreifache: Eine politische, eine soziale und eine humane:  

a) eine politische, um sich durch Lektüre und belehrende Vorträge über das Wohl des Vaterlandes aufzuklären, das demokratische Prinzip in allen weiblichen Kreisen zu verbreiten, die Freiheitsliebe schon bei dem Beginne der Erziehung in der Kinderbrust anzufachen und zugleich das deutsche Element zu kräftigen; 

b) eine soziale, um die Gleichberechtigung der Frauen anzustreben durch Gründung öffentlicher Volksschulen und höherer Bildungsanstalten, den weiblichen Unterricht umzugestalten und die Lage der ärmeren Mädchen durch liebevolle Erhebung zu veredeln; 

c) eine humane, um den tief gefühlten Dank der Frauen Wiens für die Segnungen der Freiheit durch sorgsame Verpflegung aller Opfer der Revolution auszusprechen.

Kurz nach der Gründung beteiligt sich der Verein an der Organisation der Totenfeier für die in der Praterschlacht ums Leben gekommene Männer und Frauen am 3. September 1848. Damit erlangt er endgültig Bekanntheit in der Allgemeinheit, und auch jene Zeitungen, welche die Gründung nicht erwähnt haben, kommen nun nicht umhin, auf die Existenz eines solchen, speziellen Frauenvereins zu verweisen.

Obwohl der Frauenverein nur zwei Monate bestehen wird, markiert er den Beginn der Frauenbewegung in Österreich. In der Öffentlichkeit wird er inzwischen heftigst mit sexual-pathologischen Bemerkungen attackiert und den Frauen vorgeworfen, dass sie Amazonen, hässlich, sexbesessen und unweiblich seien.  An dieser Methodik hat sich also nichts  bis heute geändert.

Karoline von Perin selbst wird von der Bevölkerung wie Presse persönlich diffamiert. Da wird einmal ihr Einfluss auf ihren Gefährten auf die weibliche Verführungskraft ( Eva & die Schlange! ) zurückgeführt, andererseits wird sie als unweibliche Geliebte eines Demagogen verunglimpft, als "schmutzige Amazone", "politische Marktschreierin" oder "politische Pechfrau", "Konkubine" und als "Egeria der Wiener Revolution" tituliert. Man schreibt ihr eine Bedeutung zu, die sie nach eigener, späterer Darstellung nicht gehabt hat. Doch dazu mehr im Laufe des Posts.

Positive Resonanz erfährt der Frauenverein bei den demokratischen Männervereinen, die in ihm einen Partner sehen. So werden die Frauen auch am 10. September neben acht anderen Vereinen zu einer Diskussion hinsichtlich der Strategie zur Verteidigung des revolutionären Wiens eingeladen. Am 30. September dann wird ein Zentralausschuss der demokratisch-freisinnigen Vereine Wiens ins Leben gerufen. Auch dazu gehört der Demokratische Frauenverein.

Die Ermordung des verhassten Kriegsministers Theodor Baillet de Latour am 6. Oktober 1848 bildet Argument und Auftakt zur Konterrevolution und führt zur Abreise des kaiserlichen Hofes aus Wien. Am 17. Oktober marschieren einige hundert Frauen zum Wiener Reichstag, da die Stadt inzwischen von kaisertreuen Truppen, zurückgekehrt aus Ungarn, umstellt ist. Eine vierköpfige Delegation, darunter Karoline, überreichen den Abgeordneten eine Petition mit tausend Unterschriften und verlangen die Einberufung des Landsturmes, welches das ländliche Pendant zur städtischen Nationalgarde ist. Die Abgeordneten machen die Frauen daraufhin lächerlich, indem sie ihnen vorschlagen, sie sollten sich besser als Krankenschwestern zur Verfügung stellen. ( In der Parlamentsbibliothek kann frau die Petition im Original-Sitzungsprotokoll nachlesen. )

Karoline selbst bleibt weiterhin Ziel von Attacken: Angeblich habe sie sich in eine schwarz-rot-goldene Trikolore gehüllt, um ihr Bekenntnis zur revolutionären Bewegung kundzutun und so von den Barrikaden zum Weiterkämpfen aufgefordert. Die Zeitung "Die Gegenwart" diffamiert sie daraufhin als "verrückt", "überspannt" und "unzurechnungsfähig". Ähnliche Bezeichnungen, die Karoline von Perin als "geisteskrank" verunglimpft haben, sind schon bei der Berichterstattung zur Präsentation der Landsturmpetition gefallen.

Die Mitglieder des Frauenvereins nehmen tatsächlich auch an verschiedenen Demonstrationen und am Verteidigungskampf gegen die kaiserlichen Truppen teil. 

Am 31. Oktober 1848 gelingt es den Truppen des Fürsten Windisch-Graetz, aus Ungarn von der Niederschlagung der ungarischen Unabhängigkeitsbewegung zurückgekehrt, auch die Wiener Proteste endgültig zu unterbinden. Karoline gehört neben ihrem Lebensgefährten zu den 14 Personen, deren Auslieferung in den Kapitulationsbedingungen ausdrücklich gefordert wird. ( Das kann frau durchaus als Zeichen dafür lesen, dass der Frauenemanzipation staatsgefährdender Charakter zugesprochen wird.) 

Das Ende des ersten politisch organisierten Frauenvereins ist mit der Niederschlagung der Revolution besiegelt. Karoline selbst wird freilich später in ihren geschichtsklitternden Ausführungen behaupten, dass sich der Frauenverein schon in den beiden letzten Oktoberwochen selbst aufgelöst habe.

Nach dem Zusammenbruch der demokratischen Bewegung beginnt - und absehbar gewesen ist - die polizeiliche Verfolgung. Karoline hat zwar alles für die Flucht aus der Stadt organisiert gehabt, wird aber nach einem politischen Verrat am 4. November 1848 verhaftet. Am nächsten Tag wird auch Hermann Jelinek, ebenfalls Redakteur bei "Der Radikale", in ihrer Wohnung festgenommen, ein paar Tage später, am 13. November auch Alfred J. Becher. 

Währinger Park
Auf der Wachstube wird die 42jährige auf dem Boden liegend von Polizisten getreten und durch den Raum geschleift. "Die provokant ‚Emancipation’ einfordernde Präsidentin des Frauenvereins wurde nicht nur verurteilt, sondern von ihren ‚Wachen’ sogar durch körperliche Misshandlung persönlich gedemütigt", heißt es in den Quellen. Nach 23 Tagen Haft wird sie als psychisch krank bezeichnet - immer eine effektive und oft angewandte Methode, um widerspenstige, rebellische Frauen in die Schranken zu weisen.  

Karolines Vermögen wird konfisziert und das Sorgerecht für ihre Kinder, darunter der erst achtjährige Anton, entzogen.

Alfred J. Becher kommt am 22. November vor ein Militärtribunal. Ihm wird vorgeworfen, mittels publizistischer Tätigkeit auf die "gänzliche Zerstörung" der "bestehenden Staatseinrichtung" hingewirkt zu haben und er wird zum Tode verurteilt. Es wird ihm verwehrt, Karoline vor seinem Tod noch einmal zu sehen. Das ist als besondere Grausamkeit zu bewerten, denn anderen wird das gestattet. Am nächsten Tag schon wird er zusammen mit Hermann Jelinek vor dem Neutor in Wien standrechtlich erschossen.

"Die Willkür des Todesurteils wurde sofort erkannt, nicht nur bei den Unterstützern der Revolution", so die Historikerin Brigitte Biwald. 

Ohne Jahr
Karoline ist nach dem Tod ihres Lebensgefährten und ihrer Entlassung aus der Haft den Machthabern in der Monarchie völlig ausgeliefert. Sämtliche bürgerliche Freiheiten sind ja jetzt eingeschränkt sowie Auflösung und Verbot aller politischer Vereine nach nur wenigen Monaten ihres Bestehens erlassen worden. Die staatliche Zensur ist wieder eingeführt, und die polizeiliche Überwachung verstärkt worden. Mit den Frauenemanzipationsbestrebungen wird radikal gebrochen, und die Frauen werden in politischen Vereinen für lange Zeit keinen Platz mehr haben, genauer gesagt bis 1918.

Am 17. April 1849 emigriert Karoline von Perin schließlich nach München. Sie verfasst ihre Memoiren "Ungedruckte Aufzeichnungen" so, dass sich ihre Rolle in den letzten Oktobertagen vor dem Niedergang der demokratischen Bewegung heute nur noch schwer rekonstruieren lässt. In ihrem Bericht über ihre Flucht, Gefangennahme und Gefängniszeit schwört sie dem revolutionären Gedanken völlig ab, wahrscheinlich auch, um durch diese Abbitte wieder Teil der Gesellschaft werden zu können. 

Aufgrund dieser Bekenntnisse wird es ihr nämlich im Oktober 1849 erlaubt, nach Wien zurückzukehren - ein Treppenwitz sozusagen: Die Rückkehr in die Gesellschaft bleibt ihr zeitlebens verwehrt. Man ist dauerhaft gewillt, an ihr zwecks Abschreckung ein Exempel zu statuieren: "Für ihre Leugnung der Natürlichkeit der Geschlechter bekam sie in den Augen vieler die gerechte Strafe“, so die Historikerin Gabriella Hauch, die sich um die Forschung rund um Karoline von Perin verdient macht.

Da ohne Vermögen und familiale Unterstützung widmet sie sich den 1850er Jahren der Fotografie. Sie führt zeitweise Studios in Wien, Bad Ischl und Salzburg unter dem Namen Gradenstein C., ganz ohne Hinweis auf Geschlecht und Vergangenheit. Doch die Metternichsche Geheimpolizei kann sie 1855 in Bad Ischl identifizieren. ( In fotografischen Handbüchern wird bis heute vom "Wiener Fotografen Gradenstein" geschrieben. ) 1862 gibt Karoline die Fotografie wieder auf und lebt von den Einkünften eines Stellenvermittlungsbüros. Danach verliert sich jede Spur von ihr.

Am 10. Dezember 1888 stirbt Karoline von Perin in Wien mit 82 Jahren. Es gibt einen bösartigen Nekrolog auf sie, der – bis auf die Einleitung – im völlig gleichen Wortlaut in zwei unterschiedlichen Tageszeitungen erschienen ist. Einmal erscheint der Artikel bereits vor, im anderen Fall nach dem Begräbnis. In der ersten Zeitung heißt es: "Kaum jemand wird an ihrem Begräbnis teilnehmen...", während in der zweiten Zeitung steht: "Kaum jemand nahm an ihrem Begräbnis teil...". 

Ein bitteres Ende für eine mutige Frau, die ihre aristokratische Herkunft hinter sich gelassen hat, um sich dem Kampf für die demokratischen Rechte der Frauen zu widmen...

Infam und beschämend ist, dass in Konstantin von Wurzbachs Lebenswerk, dem "Biographischen Lexikon des Kaiserthums Oesterreich" (BLKÖ) bei den Einträgen unter dem Namen "Pasqualati" neben dem Vater Andreas Joseph Pasqualati lediglich seine Söhne Joseph und Moriz erwähnt werden. Die Tochter wird totgeschwiegen. Diese Institution in der Wiener Geschichtsforschung gilt als sakrosankt und beweist, wie tiefgreifend das patriarchiale System weiterhin Geltung hat! 

Im Wiener Volksgarten wird zu Beginn dieses Jahrzehnts ein Gedenkstein für den Ersten Wiener Demokratischen Frauenverein gesetzt. 2018 war schon in der Seestadt Aspern im 22. Bezirk die Karoline-Perin-Gasse nach ihr benannt worden - alles vielversprechende Anfänge. 

Mich hat es dennoch erstaunt, dass über eine solche Persönlichkeit in der Geschichte des Landes so wenig in Erfahrung zu bringen ist. Das ist mir bei meinen Recherchearbeiten für vierhundert Blogbeiträge in dieser Rubrik eher selten passiert...

                                                                      


Donnerstag, 1. August 2024

Great Women #385: Alice Urbach

Wieder ist ein Quadrat - das sechzehnte - mit Fotos von 24 Frauen gefüllt. 384 Frauen habe ich inzwischen in meinem Blog porträtiert, seit ich die Anregung von Barbara Bee vor fast zehn Jahren aufgegriffen habe. Heute kommt die 385. Frau dran, eine österreichische Jüdin, deren geistiges Eigentum der Niedertracht, Habgier & Gewissenlosigkeit der Nazis und ihrer Nachgeborenen zum Opfer gefallen ist. Die Rede ist von Alice Urbach.

Alice Urbach kommt am 5. Februar 1886 als Alice Mayer in Wien in der österreichischen Doppelmonarchie in einer angesehenen & wohlhabenden Familie zur Welt. Ihr Vater Sigmund Mayer, im Pressburger Ghetto 1831 als Sohn eines Textilgroßhändlers geboren, selbst Kaufmann im Orient-Export mit Firmenhauptsitz in Alexandria, aber auch Kommunalpolitiker & Autor, ist zum Zeitpunkt ihrer Geburt schon 55 Jahre alt. 
Sigmund Mayer

Mayer, so seine spätere Urenkelin in ihrem Buch über die Großmutter, habe das Ghetto gehasst, weil er und seine Geschwister dort so gut wie nie lachen konnten und immer in Angst gelebt haben ( vergleiche auch mit diesem Post ). Schon vor seiner Geburt, 1848, ist es zu pogromartigen Ausschreitungen gegen die Pressburger Juden gekommen, und das  Ghetto verwüstet worden. Sigmund Mayer wird später in seiner Autobiografie sehr eindrücklich die Ereignisse in Pressburg und seine weiteren Schwierigkeiten in Wien darstellen.

Seine Ambitionen als junger Mann, Anwalt zu werden, hat er nach einer Infektion mit zeitweiliger Erblindung aufgeben müssen und sich schließlich im Familientextilgeschäft mit Erfolg engagiert.

Ab 1894 ist er in der "Österreichischen Israelitischen Union" als aktiver Kämpfer gegen den wachsenden Antisemitismus in der K.u.K. Monarchie maßgeblich aktiv. Vor dem ersten Weltkrieg liefert er sich Rededuelle mit dem antisemitischen Wiener Bürgermeister Karl Lueger, mit dem er zunächst als Konservativer gemeinsame ökonomische Einstellungen geteilt hat.

Mit Alices Mutter Pauline Gutmann, 1850 in Wien geboren, ist Sigmund Mayer in zweiter Ehe verheiratet. Mit ihr zusammen bekommt er nach fünf Kindern aus der ersten, geschiedenen Ehe drei weitere: Felix (*1884), Alice und Helene (* 1894). 
Der zweite Nordbahnhof von 1865 in der Leopoldstadt  -
für Zuwanderer das Tor zur Stadt

Alice wächst zunächst in der jüdisch geprägten Wiener Leopoldstadt in der Oberen Augartenstraße auf. Vor der Jahrhundertwende wird man nach Döbling ins angesehene Cottage-Viertel ziehen, der schönsten Wohngegend der Donaumetropole.

Das Mädchen gilt als hübsches Kind, hat aber nicht das Potential bzw. besondere Begabungen, um ein Wunderkind zu werden - das Ziel vieler jüdischer Eltern, die deshalb all ihren Kindern, egal ob Junge oder Mädchen, eine sehr gute Bildung zukommen lassen ( viele meiner Frauenporträts zeugen davon ). Zwar träumt Alice selbst von Höherem, muss aber erkennen, dass ihre Halbgeschwister und die kleine Schwester einfach intelligenter sind. Sie redet sich ihren Status in der Familienhierarchie damit schön, dass sie halt faul gewesen sei.

Den Vater bewundert und fürchtet sie, ist er eine sehr imposante Persönlichkeit trotz seines kleinen Wuchses. Mit seinen Kindern spricht er nur bei den Mahlzeiten, und die dürfen nur auf seine Fragen antworten. Die Mutter erfährt das Kind als echte Dame, die die Küche einer versierten Köchin überlässt. In diesem Raum fühlt Alice sich wiederum wohl & aufgehoben und sie träumt davon, dass sie einmal so gut wird kochen können, dass es dem Vater, einem Gourmet, ein Lächeln entlocken wird. 
Mit ihrer Schwester Helene
(ohne Jahr)

Auch sonst entspricht sie nicht dem Klischee des "süßen Mädels", welches für ihre Generation in Wien so maßgebend ist. Geboren in eine Textilhändlerdynastie gibt es keinen Mangel an schönen Kleidern und ihre "'Mehlspeisenfigur' mit üppigem Dekolleté" entspricht dem damaligen Schönheitsideal. 

Allerdings führt das ebenfalls vorherrschende rigide Moralkonzept auch bei ihr zu großer Angst vor der Sexualität. Die Erfahrungen ihrer älteren Halbschwestern mit ihren Ehemännern sind nicht gerade verlockend & verheißungsvoll. Alice würde gerne einer Ehe entgehen und Lehrling in einer der berühmten Wiener Konfiserien werden.

Doch Mädchen sind dort nicht zugelassen. Immerhin kann sie mit achtzehn eine exklusive, private Kochschule in der Nähe ihres Hauses besuchen. Ihre Künste probiert sie zu den Einladungen ihrer Eltern aus. Doch mit 26 Jahren ist ihre Schonfrist vorbei, droht sie doch nach damaliger Anschauung ein "spätes Mädchen" zu werden. Dem Vater kommt als Heiratsaspirant ein Dr. Maximilian Urban gerade recht, zehn Jahre älter als sie, und Alice fügt sich aus reiner Gefälligkeit ihren Eltern. Im Dezember 1912 wird sie in der Synagoge getraut.

Dass den Ehemann aus angesehener Familie ein "Schadchen", der jüdische Heiratsvermittler, aufgetrieben hat, ist durchaus wahrscheinlich. Aber nicht nur ein solcher, auch der künftige Ehemann kann an einer derart vermittelten Partie gut verdienen - Alice bringt als Mitgift immerhin 80 000 Kronen in die Ehe. 

Im September des darauffolgenden Jahres schenkt sie ihrem Sohn Otto Robert das Leben, November 1917 kommt Karl Friedrich zur Welt. Schon nicht ganz drei Jahre später, am 1. April 1920 stirbt Maximilian Urbach, 44jährig, nach kurzem Leiden "an einer Gehirngrippe", wie es verschleiernd in der Todesanzeige heißt.

In einer inoffiziellen Fassung ihrer Lebenserinnerungen wird Alice 1977 zu ihrer Hochzeit schreiben:

"... als ich mich zum Festessen hinsetzte, hatte ich nur einen Gedanken: Oh Gott, was habe ich getan!"  ( Quelle hier )

"Mit Max verheiratet zu sein war nicht nur eine sexuelle Enttäuschung, er stellte sich auch als großer sozialer Abstieg heraus", konstatiert ihre Enkelin Jahrzehnte später. Urbach ist nicht nur ein Fremdgänger, sondern auch ein Spieler gewesen. Mit ihm hat Alice das angenehme Döblinger Familienzuhause gegen eine Wohnung im Arbeiterviertel Ottakring tauschen müssen. Dort lernt sie die "schrecklichen Verhältnisse"  der Arbeiterschaft kennen, die unhygienischen Wohnverhältnisse, in der die "Motten", wie die Tuberkulose in Wien genannt wird ( siehe auch dieser und dieser Post ), grassieren, die Konflikte & Schlägereien unter den Bewohnern.

Der Erste Weltkrieg hat das ohnehin nicht wirklich erfreuliche Eheleben der Urbachs dann noch weiter belastet, und Alice fragt sich: 

"... wie konnte sich ein jüdischerMann so schlecht benehmen? Ich schämte mich entsetzlich, eine so schlechte Wahl getroffen zu haben. Wem hätte ich es auch erklären können? Meine Eltern waren alt, und man sprach nicht über Dinge, die sich im Schlafzimmer abspielten."

Ihre zweite Schwangerschaft kann sie sich unter diesen Umständen gar nicht erklären. Weil sie Angst vor einem durch Alkohol geschädigten Kind hat, rät ihr Mann ihr zur Abtreibung. Sie entscheidet sich anders. Aber eine Scheidung mag Alice mit einem Säugling auch nicht ins Auge fassen. 

Nach dem Zusammenbruch des Habsburger Reiches am Ende des 1. Weltkrieges bricht auch alles andere zusammen  - die Versorgung mit Lebensmitteln, Elektrizität und Heizmaterial wird knapp. Urbach verspielt, bevor er stirbt, noch den Erlös eines Diamantarmbandes seiner Ehefrau.

Es ist nachvollziehbar, dass Alice seinen Tod zunächst als Befreiung erlebt. Doch dann muss sie realisieren, dass sie wirtschaftlich vor dem Nichts steht. Den Vater will sie nicht behelligen, denn der hat ja ausreichend in ihre Ehe investiert, ist nun alt & gebrechlich und stirbt dann auch schon knapp sieben Monate nach seinem Schwiegersohn, die Mutter im Jahr darauf ( sie erhalten ein monumentales Grab auf dem Döblinger Friedhof ). Das väterliche Testament bedenkt Alice, anders als ihre Geschwister, nur mit dem Pflichtteil: Der Vater hat sie wohl nie geliebt. Das wird der 34jährigen Witwe klar.

Eine Stütze als Vormund der kleinen Söhne ist zunächst der Schwager Ignaz Urbach, der aber im Juli 1924 unter ungeklärten Umständen nach Zahlungsschwierigkeiten seiner Bank ums Leben kommt.

Alice kann untervermieten, Alice kann für ihre jüngere, in sehr viel reputierlicheren Verhältnissen lebende Schwester, Dr. Helene Eissler, bei deren Abendeinladungen kochen bzw. ihre Bridgepartys mit Kreationen wie den "Bridgebissen" versorgen. Einige Damen dieser Gesellschaften zeigen sich schließlich an Alices Kochkünsten interessiert. Und so entwickelt sich allmählich die Idee von einer eigenen Kochschule.

In einem Laden für Herde in der Inneren Stadt spricht Alice den Besitzer auf eine Nutzung seiner Testküche an. Das klappt! Montags & freitags ab 15 Uhr gibt sie nun Unterricht in Zuckerbäckerei. Die Mund-Zu-Mund-Propaganda verschafft ihr alsbald viele Schülerinnen, auch die Fähigkeit der jungen Frau, jede Weibsperson anzusprechen, die ihr vor den "elegantesten Wiener Delikatessengeschäfte(n)" in die Arme läuft.

Das Konzept geht auf, die Nachfrage steigt, so dass Alice bald einen zweiten Raum anmieten muss. Doch dann tritt ein, was der Wiener Publizisten Friedrich Torberg beobachtet hat: "In Wien gibt es Sacher und Widersacher": Die Behörden werden auf Alice und ihr nicht genehmigtes Gewerbe aufmerksam. 

Zum Glück ist die Ehefrau des zweiten Bürgermeisters eine zufriedene Schülerin und verhilft ihr zu einem Gewerbeschein. Jetzt steht der Kochschule in der Goldeggasse in Wieden nichts mehr im Wege. Ein illustres Publikum lässt sich bald von Alice in der Wiener Küche einweisen. Auch ihre 22 Jahre ältere Halbschwester Sidonie fördert sie. 1925 publizieren sie sogar gemeinsam "Das Kochbuch für Feinschmecker" beim jüdischen Verlag Moritz Perles. Alice hält auch Vorträge in der ganzen Stadt, z.B. über die Schnellküche für berufstätige Frauen, die Presse bringt Artikel, ein immer internationaleres Publikum findet sich ein, und Alice muss gar auf Englisch & Französisch unterrichten. Ihre internationalen Schüler*innen bringen sie auf die Idee, einen Lieferservice zu initiieren. Ab 1932 bringt sie komplette Menüs ins Haus oder ins Büro. 

Um die beiden Söhne kümmert sich derweil Sidonie & eine Kinderfrau. Das ist auch nötig, denn der alleinerziehenden, gut beschäftigten Mutter läuft der ältere Sohn schulisch immer mehr aus dem Ruder. 1932 bricht er die Schule sogar ab und geht für anderthalb Jahre nach England, um sich zum Techniker ausbilden zu lassen. Schweren Herzens lässt Alice ihn ziehen, als er dann 1934 auch noch weiter, nun in die Vereinigten Staaten, aufbricht. Karl hingegen legt wie erwartet das Abitur ab und beginnt Medizin zu studieren.

1935 erscheint ihr zweites Kochbuch "So kocht man ihn Wien!", fünfhundert Seiten stark und alles enthaltend, was Alice seit ihrem fünften Lebensjahr übers Kochen & Haushaltsführung gelernt hat. Über das Zustandekommen dieses Werkes wird der Nachfolger des Verlegers später seine ganz eigene Geschichte erzählen, die erheblich und zu ihren Ungunsten von dem abweicht, was Alice Urban erlebt hat, denn sie ist zum damaligen Zeitpunkt keine Neuentdeckung des Verlages, sondern eine angesehene Wiener Größe in Kochkreisen. Das Buch wird ein Bestseller & gut rezensiert und ist keinesfalls der Ladenhüter, als das es der Verleger nach dem Krieg zu verkaufen sucht.

Die politische Lage in Österreich hat sich mittlerweile sehr bedrohlich entwickelt & ist höchst antisemitisch geprägt. Alice kommt zu dem Schluss, dass sie etwas ändern muss an ihrem Leben, bevor es zu spät ist. Sie gibt Wohnung und Kochschule in der Goldeggasse auf und reist im Februar 1937, nunmehr 51 Jahre alt, ab nach England. Der Sohn Karl quartiert sich derweil bei einem Freund ein.

Doch ein Neuanfang in London will ihr nicht recht gelingen, und schon einen Monat später kehrt Alice nach Wien zurück - ein echtes Debakel! Sie kann in der Schreyvogelgasse bei ihrer Freundin Paula Sieber, von Beruf Kinobetreiberin, unterkommen, die in ähnlichem Alter, ebenfalls alleinerziehend und von Männern desillusioniert ist. Da das aber keine Lösung auf Dauer ist, verdingt Alice sich als Diätköchin in einem Sanatorium eines jüdischen Arztes in Hietzing. Zwecks Nebenverdienst gibt sie wieder Kurse und unterhält einen Lieferservice.

Juden müssen nach dem "Anschluss" Straßen schrubben

Dann, im März 1938, der "Anschluss" Österreichs an das hitlersche Deutsche Reich! Sohn Otto, wieder in den Staaten, ahnt, was auf seine Mutter und seinen Bruder zukommen wird, welchen Hassorgien Juden ausgesetzt sein werden. Doch die Möglichkeiten, sie zu sich zu holen, sind nicht gerade aussichtsreich.

Alice verliert alsbald ihre Festanstellung, weil ihr Arbeitgeber flieht, Karl wird der Universität verwiesen, und sie  kommt wieder bei Paula Sieber unter. Sie versucht, ebenso wie ihr Bruder Felix & ihre Schwestern Sidonie & Helene, aus Österreich herauszukommen. Eine Jagd nach Stempeln beginnt... Otto kümmert sich von den Vereinigten Staaten aus um ein Affidavit, ebenso eine befreundete amerikanische Familie. 

Im Oktober 1938 gelingt Alice die Ausreise nach England, Sohn & Geschwister muss sie zurücklassen. Im Vermögensverzeichnis, das sie zwangsweise ausfüllen muss, gibt sie die Urheberrechte für ihr Buch nicht an, warum, bleibt unklar. 

Romane von jüdischen Autor*innen werden nun auch in Österreich verbannt. Doch bekannte Sachbücher, wie z.B. Kommentare zum Bürgerlichen Gesetzbuch ( heute noch aktuell! ) oder Knauers Gesundheitslexikon werden "arisiert", das heißt, die Sachbücher bekamen "arische" Autorennamen und werden so "geraubt". Auch Alices Kochbuch widerfährt das: 

"Nach dem Anschluss Österreichs sah ich mich genötigt, für das Kochbuch einen neuen Verfasser zu suchen, da Alice Urbach Jüdin war und das Kochbuch sonst nicht mehr hätte vertrieben werden können", wird der Verleger Hermann Jungck 1974 lapidar feststellen.

Die wichtigste Streichung betrifft Alices Vorwort. Sonst ist das neue Kochbuch eines gewissen Rudolf Rösch, "langjähriger Küchenmeister und Mitarbeiter des Reichsnährstandes", zu 60 Prozent ein Plagiat. Rezepte wie das der "Jaffa-Torte" oder "Rothschild-Omlette" fehlen - zu jüdisch klingend! Röschs Name findet sich übrigens in keinem der zeitgenössischen Wiener Adressbücher und Zeitungsartikeln. Der Verlag, in München angesiedelt, veröffentlicht insgesamt sieben Ausgaben unter dem selbigen Titel & unter diesem Autorennamen bis in die 1960er Jahre hinein.

Kehren wir zurück nach Wien: Dort will Karl Urbach am Tag nach der Reichspogromnacht ein für seine Einwanderung notwendiges Papier bei der jüdischen Auswanderungsbehörde abholen und wird, wie viele andere jüdische Männer, von der Gestapo aufgegriffen, in Viehtransporter verladen und über wechselnde Stationen ins Konzentrationslager Dachau gebracht. Dort wird der junge Mann brutal gefoltert, aber 1939 auch wieder freigelassen – warum, bleibt unklar, wahrscheinlich hat der Bruder Otto Geld beschaffen können. Nach dieser Inhaftierung verlässt Karl Österreich sofort und gelangt 1939 über Holland in die USA zu Otto. 

Alices Halbschwestern Sidonie und Karoline werden 1941 deportiert und in Treblinka ermordet werden, ihre jüngere Schwester Helene, die Juristin, die als zweite Frau in Österreich in Jura promoviert hat, im Ghetto Lodz. Bruder Felix, dem es zunächst ähnlich wie seinem Neffen Karl ergeht, kann mit seiner Familie noch rechtzeitig in die USA emigrieren. Auch weitere Familienmitglieder werden das Glück nicht haben.

Grantham Castle
Alice findet unterdessen über die Anlaufstelle für jüdische Emigranten im Woburn House ( siehe auch dieser Post ) dank der Tatsache, dass die Arbeitserlaubnis für Dienstboten - domestic permits - relativ locker ist, da Personalmangel herrscht, auf einem Landsitz zwei Autostunden von London entfernt bei einer neureichen Erbin eines Kosmetikunternehmens eine Stelle als Köchin. 

Das menschliche Klima auf Grantham Castle lässt zu wünschen übrig, denn die exzentrische Hausherrin lässt Alice spüren, dass ihre Lebensläufe in total entgegengesetzte Richtungen verlaufen sind: Bei Alice von der höheren Tochter zur Dienstbotin, bei Violet van der Elst von der Waschfrau zur Millionärin. Die entlässt dann im Januar 1939 die fähige Konditorin, konterkariert die mit ihrem Können ihre Versuche abzunehmen.

Alice findet bald was Neues bei der Schwägerin des britischen Außenministers Anthony Eden, wird dann aber von einer Londoner Arztfamilie abgeworben. 

Jüdische Mädchen aus Polen kommen
1939 im Hafen von London an
1940 dann etwas ganz anderes: Ganz im Sinne der jüdischen Gemeinde in England möchte Alice Urbach ihre Möglichkeiten & ihr Können darauf verwenden, denen zu helfen, die noch unglücklicher im Exil sind als sie selbst. Als vom Woburn House eine Anfrage kommt, ob sie Heimleiterin für ein von einem jüdischen Juwelier aus Newcastle privat gegründetes Kinderheim in der Nähe der Stadt werden könnte, übernimmt sie die Aufgabe, obwohl sie dafür wenig qualifiziert ist. Dort sollen "unbegleitete Jugendliche", in ihrem Fall lauter Mädchen, betreut werden, die von ihren Eltern vor den Nazis in Sicherheit gebracht worden sind ( Großbritannien lässt, anders als die Staaten, Kinder ohne Visum ins Land ).

Es ist schon eine verrückte Idee, denn Alice bringt nichts mit außer ihren Kochkünsten! Immerhin kann sie durchsetzen, dass ihre Freundin Paula Sieber, die nach dem Novemberpogrom ebenfalls aus Wien geflüchtet ist, als zweite Betreuerin eingestellt wird. Niemand ahnt, dass die beiden patenten Frauen sieben Jahre lang diese Aufgabe ausfüllen müssen. Zunächst geht man unter den Organisatoren nämlich davon aus, dass die Eltern der Kinder bald nachkommen würden.

Herausgefordert werden die beiden Frauen, sehen sie sich doch lauter verängstigten und unglücklichen Mädchen gegenüber; die jüngeren weinen Tag & Nacht, die größeren sprechen kaum ein Wort, stehen unter Schock. Trotz Kriegsausbruches organisieren Alice & Paula alsbald eine Geburtstagsparty für eine frisch angekommene Zehnjährige, mit allem Drum & Dran. 

Die Panik, dass die Nazis auch an der englischen Küste anlanden könnten, ist kaum im Zaun zu halten. Sie halten die Mädchen dennoch an, die englische Schule zu besuchen, gute Manieren wie die Engländer einzuhalten und nicht zu verwahrlosen, was Kleidung & Äußeres anbelangt. Sie achten auf die Gesundheit der Mädchen, bemühen sich um Hygiene ( man denke nur an die üblichen Läuseplagen! ) und sorgen für ein besonders gutes Frühstück als Grundlage für den Tag. Alice ist inspiriert von den Erfahrungen Anna Freuds ( siehe auch dieser Post ), die in Wien Schülerin in ihrer Kochschule gewesen ist und nun im Exil Kinder im Londoner East End um sich sammelt & betreut.

Mit Paula Sieber (rechts)
(1940er Jahre)
Da Newcastle als Industriestadt Ziel der deutschen Luftwaffe wird, zieht das Heim in eine weniger gefährdete Region im Lake District, an den Windermere See. Mit jedem Kriegsjahr wird den Kindern klar, dass sie ihre Eltern nicht mehr wiedersehen werden. Das bringt weitere psychische Probleme mit sich, auf die die beiden Nicht-Fach-Frauen erstaunlich einfühlsam & angemessen reagieren. Von manchen Situationen sind sie allerdings auch überfordert.

1944 geschieht etwas Unerwartetes: Ein Mann mit amerikanischer Uniform taucht am Kinderheim auf: Otto, den Alice seit neun Jahren nicht mehr gesehen hat! Alice nimmt diesen Auftritt als Zeichen, dass der Krieg gegen Nazideutschland vor einer Wende steht. Otto als Pilot ist Teil der eine halbe Million umfassenden Armee, die einen Angriff an der Küste der Normandie plant.

Mit dem Kriegsende kommt nicht nur Freude auf: Alice & Paula wird klar, dass sie kein Kinderheim, sondern ein Waisenhaus geleitet haben. Nach und nach erreichen sie Nachrichten über den Verbleib der Eltern & Verwandten ihrer Schützlinge. Manche Mädchen können zu entfernten Verwandten, andere wollen bleiben und ihren "Elternersatz" behalten. Das Heim wird auch nicht sofort abgewickelt, sondern Durchgangsstation für Kinder aus anderen Unterkünften. Doch Alice will, anders als ihre Freundin, jetzt schnell zu ihren Lieben in den Vereinigten Staaten.

Am 16. Oktober 1946 besteigt sie das Schiff in Southampton. Sie ist jetzt sechzig Jahre alt. Erschöpft kommt sie in New York an, mühsam lächelnd und kleidungsmäßig total abgerissen. Das fällt ihrer Schwägerin, die sie in Empfang nimmt, sofort auf, wird doch von je in der textilaffinen Familie Mayer besonders auf gute Kleidung geachtet. Alice zieht es dann weiter nach Chicago, wo ihr Sohn Karl studiert und ihr einen Job als Diätberaterin in einem großen Hotel verschafft. Doch Alice fühlt sich in den USA dankbar & gleichzeitig unglücklich.

Mit Sohn Otto
(1949)
1949 reist sie nach Wien, auch um ihren Sohn Otto und seine junge Frau Wera Friedberg, eine Schauspielerin, zu sehen, aber vor allem auch um das alte Wien wiederzufinden. Dazu streift sie durch die ihr bekannten Straßen & Grätzel. Dabei stößt sie in einer Wiener Buchhandlung auf die Rösch-Ausgabe und weiß sofort, dass es ihr Werk ist. Für sie steht diese Entdeckung stellvertretend für all das Unrecht und die Erniedrigungen der letzten Jahre.

Sie sucht den Verleger in der Schweiz auf, um ihn zur Rede zu stellen, ohne Erfolg, geht der doch ganz schnell auf Konfrontationskurs und bestreitet, dass Alice noch Rechte auf ihr Buch hat. Wenn sie Geld für einen Anwalt gehabt hätte - Nerven hat sie für eine solche Auseinandersetzung nicht.

In den 1950er Jahren zieht sie nach New York. Sie hofft auf eine Veröffentlichung ihres Buches ins Amerikanische, muss sie aber begraben, weil neben einem anderen, bereits erschienenen Buch über die Wiener Küche kein Interesse an einem weiteren Exemplar besteht. Alice versucht nun durch Verdrängung Abstand von der Geschichte der jüdischen Österreicher zu gewinnen. Eine Methode ist auch, sich mit vielen Menschen zu umgeben. Sie feiert rauschende Partys in ihrer Wohnung, die sie sich eigentlich nicht leisten kann. Die inzwischen Siebzigjährige wendet sich an den Österreichischen Hilfsfond, um Unterstützung zu erhalten.

1969 folgt sie Karl, inzwischen verheiratet und Leiter eines Krankenhauses, nach San Francisco, wo sie in einem Altersheim lebt. Mit ihren 83 Jahren wird sogar in San Francisco in einer Kochschule angestellt. Mit 95 Jahren kocht sie in amerikanischen Fernsehsendungen und spricht in Interviews immer wieder von ihrem Buch, das man ihr gestohlen habe. Noch 1980 unternimmt sie einen neuen Anlauf von den USA aus, um an ihre Urheberechte zu kommen. Der Verlag schweigt weiterhin bzw. antwortet nicht auf die 18 Briefe, die sie an den Verleger Hermann Jungck richtet. Schließlich teilt der Verlag mit, es gebe keine Unterlagen aus der Zeit mehr.

1978

Am 26. Juli 1983 stirbt Alice Urbach mit 97 Jahren in Mill Valley, Kalifornien, USA. Im Totenschein steht als Todesursache: Artheosklerose & Depressionen. Ihren Körper hat sie vorher schon der medizinischen Fakultät vermacht.

Ihre Enkelin, die Historikerin Karina Urbach, veröffentlicht 2020 "Das Buch Alice. Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten". Nur wenige Tage nach seinem Erscheinen lässt sich der Reinhardt-Verlag doch noch zu einer Stellungnahme gegenüber dem "Spiegel" herab und bezeichnet das "damalige Verhalten des Verlages heute als moralisch nicht vertretbar". Erst jetzt erhalten ihre Enkelinnen für "So kocht man in Wien von Alice Urbach" die Rechte zurück, die im Gegenzug auf jedwede Entschädigung verzichten. Zudem druckt der Verlag das Koch- und Haushaltsbuch in einer limitierten, nicht verkäuflichen Auflage von hundert Exemplaren nach.

2021 macht eine Doku & Reportage von Andrea Oster für Arte und das ZDF noch einmal auf den Skandal rund um das Kochbuch der Alice Urbach aufmerksam. So habe ich auch von ihr erfahren, und es ist ein "gefundenes Fressen" für eine, die als Kind mit dieser Küche aufgewachsen ist. "Viennese Dumplings" (Semmelknödel) gehören bis heute zu meinen Lieblingsspeisen...

                                                                                

Ab jetzt gibt es unter jedem Frauenpost am Donnerstag eine Rubrik, in der an die Frauen erinnert wird, die in der betreffenden Woche - bzw. diesmal zwei Wochen - geboren bzw. gestorben sind und über die ich schon geschrieben habe. Heute sind das...