Jamie T.
England, du Mutterland des Fußballs. Wirst zwar so gut wie nie Weltmeister, bringst dafür in schöner Regelmäßigkeit die Popgeschichte derart in Unordnung, dass es den Fanatikern rings um den Globus schlicht die Sprache verschlägt. Im Februar 2007 ist dies mal wieder der Fall: in Gestalt des zu diesem Zeitpunkt 20 Jahre jungen Jamie T., bürgerlich Jamie Treays.Aufgewachsen im Londoner Vorort Wimbledon reiht sich der spindeldürre Jungspund in die Riege jener Popacts ein (Hard-Fi, Mystery Jets), die nicht aus London Central, sondern aus den Suburbs des Molochs stammen und daraus auch gar keinen Hehl machen. Sein Dialekt verrät ohnehin umgehend, in welcher Umgebung der MC sozialisiert wurde: Nicht der Slang von Universitäts-Raucherecken schallt einem auf Jamie T.s Debütalbum "Panic Prevention" entgegen, sondern der harte Ton der Straße."Rude boys outta jail!" Dem Schlachtruf der britischen Ska-Skinheads aus den 70er Jahren folgend bringt der Londoner seiner Umgebung die eigenen Themen ähnlich wortgewaltig nahe wie einst Mike Skinner von The Streets; ein Vergleich, den er aufgrund seiner schnörkellos dahin gerrappten Texte noch einige Male zu hören bekommt. Londoner Clubgänger nehmen erstmals im Sommer 2006 von dem Kerl Notiz, nachdem dieser plötzlich und scheinbar wie aus dem Nichts Hallen ausverkauft, ohne mit großartiger Promotion aufgefallen zu sein. Tatsächlich brauchte Jamie der Legende nach nur fünf Auftritte vor sogenannten "eigenen Kumpels", bevor er den ersten anständigen Saal voll macht. Maßgeblich trägt zu dieser Tellerwäscher-Story das seinerzeit taufrische Promotiontool MySpace bei, über das Jamies Output schnell an die richtigen Ohren gelangt. Seine Mischung aus Rock'n'Roll, Ska, Reggae, Punk, Grime und Hip Hop weckt nach der limitierten EP "Betty And The Selfish Sons" auf seinem eigenen Label Pacemaker Recordings gehörige Erwartungen, so dass auch der deutsche Markt via Virgin bald beliefert wird."Bang Bang Anglo Saxons at the Disco" nennt der Künstler seinen Style übrigens. Weniger sprachsichere Zeitgenossen dürften alleine mit dem Wort Disco einen potenziellen Aufenthaltsort der Jamie T.-Songs assoziieren. Es dauert nicht allzu lange, bis Jamie vom deutschen Feuilleton entdeckt wird, das gleichsam seinen Pioniergeist und sein überraschend umfassendes Geschichtsbewusstsein lobt. Kreuzen seine Songs die Wege von den Streets, den Clash und den Specials, stößt man in Jamies Texten plötzlich auf Billie Holiday und Bill Haley, während er auf Konzerten schon mal Desmond Dekker öffentlich hochleben lässt.In Deutschland erscheint sein Debüt "Panic Prevention" im Februar 2007, der Albumtitel spielt auf Panikattacken in Jamies Kindertagen an. Zu diesem Zeitpunkt sind in England bereits die Singles "Sheila", "If You Got The Money" und "Calm Down Dearest" veröffentlicht, und Jamie liefert einen Remix für die Gorillaz-Nummer "Kids With Guns" ab.Mit seinen Songs über versoffene Wochenenden, versoffene Wochentage, über das Leben mit Frauen, über das Leben ohne sie, über Tanzflächen und Geldmangel versammelt der Chefstyler bald eine große Fangemeinde hinter sich. 2009 erscheint sein zweites Album "Kings & Queens", das massenweise positive Kritiken einheimst und auf dem zweiten Platz der UK Charts landet. Die Single "Sticks 'N' Stones" wird außerdem zum Dauerbrenner in den Indiediskos.Ein Jahr später krönt den Erfolg des Zweitlings ein Auftritt als Headliner auf der John Peel Stage beim Glastonbury Festival. Dann, auf dem Höhepunkt seiner Beliebtheit, wird es still um den Londoner. So still, dass sich das Internet Sorgen macht. 2012 wird die Facebook-Seite "Where is Jamie T?" ins Leben gerufen. Noisey verkündet 2012, als "Wrongful Suspicion" erscheint, eine Koop von Tim Timebomb und Jamie T, freudig "Hey Guys, Jamie T is alive", bevor das Clash Magazine 2013 wieder die Frage aufwirft "Whatever happened to Jamie T?".Der Musiker selbst schweigt weiterhin, doch ein gewisser Johnny Lloyd, Ex-Mitglied der Tribes, verrät in einem Interview 2013 zumindest, dass er mit Treays im Studio arbeite. Und tatsächlich: Ein Jahr später veröffentlicht Jamie T auf sein drittes Album "Carry On The Grudge". Die Saufgeschichten treten in den Hintergrund, rein äußerlich hat er den Arbeiterjungen gegen den gut gegelten Songwriter ausgetauscht. Das Album schlägt insgesamt ruhigere, nachdenklichere Töne an.In einem Interview mit dem Guardian spricht Jamie dann auch über die fünfjährige Pause: "Ich war erschöpft. Ich habe seit ich 15 war Musik gemacht. Und weil ich Solokünstler bin, bleibt am Ende des Tages alles an dir hängen. Ich gelangte an den Punkt, vielleicht mit 23 oder so, an dem ich merkte, dass ich eine Pause brauche. Mein Stern sank. Ich war mir nicht mehr sicher, was ich tue. Also dachte ich: Fuck this und hör auf."Er ist nicht nur ausgebrannt, sondern muss auch einige private Schicksalsschläge einstecken: Sein Vater erkrankt an Krebs, Jamie T selbst kämpft weiter mit seiner Panikstörung und muss zusehen, wie sein Freundeskreis schrumpft. Nach einer Auseinandersetzung im Pub bekommt er dazu noch Ärger mit dem Gesetz. Auch die Arbeit im Studio läuft zunächst nicht so, wie er es sich vorstellt. Unzufrieden mit seinen handwerklichen Fähigkeiten beschließt er, quasi von vorne anzufangen und konzentriert sich darauf, ein zusammenhängendes, ausgetüfteltes Album zu schaffen. 180 Songs schreibt er, bevor er sich für zwölf entscheidet. Damon Albarn gab ihm auf dem Weg dorthin einen wichtigen Tipp, erzählt er dem Guardian: "Er sagte mir, ich muss aus dem Herz heraus schreiben. Keinen Scheiß drauf geben, was jemand anderes denkt. Er sagte, das wäre der einzige Weg, um eine Platte zu machen, die ... so gut ist wie meine [also Albarns]." Auf die naheliegende Frage, warum er sich erneut dem Stress im Rampenlicht aussetze, antwortet er: "Ich bin schon immer Musiker, mein ganzes Leben. Wäre niemals einen anderen Weg gegangen. Ich frage mich, manchmal, wie gesund das für mich ist ... ob ich mir einen anderen Beruf hätte aussuchen sollen. Aber hey-ho.". Zwar lässt er sich danach nicht mehr so lange Zeit und legt schon 2016 das Album "Trick" nach. Dass hier nach wie vor einer der ideenreichsten Songwriter seiner Generation am Werk ist, bleibt von der Öffentlichkeit außerhalb Englands jedoch weitgehend unbemerkt. Dass dieser schmale Junge einmal die Klaxons und die Ting Tings überleben würde, hätten 2007 sicher die wenigsten geglaubt. Doch 15 Jahre nach seinem Debütalbum ist Jamie T immer noch da und legt mit "The Theory Of Whatever" ein weiteres fantastisches Album vor. Ob Grime, R'n'B, Indie, Singer-Songwriter oder Electro: Der Londoner verwebt die unterschiedlichsten Stile nach wie vor elegant und klingt dabei keineswegs nach Patchwork. Mit "The Old Style Raiders", "Old Republican" oder "St. George Wharf Tower" schüttelt er obendrein Indie-Hymnen aus dem Ärmel, als wäre es wieder 2007. Die Wartezeit hat sich gelohnt.
© Laut
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