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ADB:Baumgartner, Gallus Jakob

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Artikel „Baumgartner, Gallus Jakob“ von Hermann Wartmann in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 2 (1875), S. 165–168, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Baumgartner,_Gallus_Jakob&oldid=- (Version vom 27. November 2024, 01:29 Uhr UTC)
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Band 2 (1875), S. 165–168 (Quelle).
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Baumgartner: Gallus Jakob B., st.-gallischer Staatsmann, geb. 18. October 1797 zu Altstätten im Rheinthal, † zu St. Gallen 12. Juli 1869. – B. war der Sohn eines unbemittelten Schneiders. Gönner des aufgeweckten Knaben ermöglichten ihm den Besuch des am Gallusfestes 1809 eröffneten katholischen Kantongymnasiums in St. Gallen, welches Landammann Müller v. Friedberg aus dem Vermögen des aufgehobenen Klosters St. Gallen geschaffen hatte und in dem auch ihm eigenthümlichen Geiste der humanistischen Aufklärung leiten ließ. Unter diesem Einflusse wuchs B. heran und zog durch außergewöhnliche Begabung und Leistungen bald die Aufmerksamkeit Müller-Friedberg’s, des Schöpfers und damaligen Regenten des Kantons St. Gallen, auf sich, dessen volle Gunst und Beförderung ihm nun lange zu Gute kam. Von dem st.-gallischen Gymnasium begab sich der angehende Student an das Lyceum zu Freiburg in der Schweiz, wo er sich die französische Sprache und als Hauslehrer und wohl empfohlener Hausfreund in liberalen Patricierfamilien auch jene sichern, gemessenen Formen des Umgangs aneignete, die er bis an sein Lebensende sorgfältig bewahrte und an Andern ungern vermißte. Die Vollendung seiner Studien suchte B. 1816 in Wien. Auch hier verdiente er sich seinen Unterhalt durch Privatunterricht und nahm im folgenden Jahre eine förmliche Hauslehrerstelle [166] in Ungarn an. Der Umstand, daß er 1817 in Wien einer Privatgesellschaft junger Schweizer angehört hatte, veranlaßte im November 1819 seine Verhaftung. Bis zum August 1820 saß er mit einigen Genossen in Untersuchungshaft und wurde zuletzt polizeilich über die Grenze spedirt. Dieses schmähliche Verfahren hinterließ eine durchs Leben andauernde Entrüstung gegen polizeiliche Willkür in B.

Im Jahre 1823 trat der 26jährige junge Mann in den Staatsdienst, von Müller-Friedberg eifrig begünstigt. Drei Jahre versah er die Stelle eines Staatsarchivars; das Jahr 1825 brachte ihn durch indirecte Wahl in den Großen Rath; 1826 wählte ihn dieser zum ersten Staatsschreiber, daneben begleitete er seit 1823 die st.-gallischen Abgeordneten als Legationssecretär an die Tagsatzung, seit 1827 als Legationsrath. Als die Bewegungen des Jahres 1830 sich fühlbar zu machen begannen, glaubte B. auch für sich die Zeit gekommen, eine selbständige Stellung einzunehmen und wo möglich den ersten Platz in seinem Heimathskanton zu erringen. Voller Arbeitslust und Arbeitskraft, voller Ehrgeiz, Meister des geschriebenen und gesprochenen Wortes, stürzte er sich mit der ganzen Energie und Heftigkeit seines Wesens in den Kampf gegen das bisherige System, veröffentlichte trotz der Censur die Verhandlungen des Großen Raths und das Budget, eröffnete in den Zeitungen benachbarter Kantone eine vernichtende Kritik der bestehenden st.-gallischen politischen Zustände und verlangte durch eine besondere Flugschrift eine verbesserte Verfassung für den Kanton. Alle diese sich unmittelbar folgenden Schläge waren von zündender Wirkung und regten, unterstützt durch den Einfluß der französischen Julirevolution, das st.-gallische Volk bis zum Grund auf. Zahlreiche Volksversammlungen verlangten unwiderstehlich einen unmittelbar vom Volke gewählten Verfassungsrath, welcher die vom Großen Rath niedergesetzte Revisions-Commission ersetzen sollte. Der Verfassungsrath wurde gewählt und B. war als erster Secretär dessen Seele, so daß die Verfassung des Jahres 1831 recht eigentlich sein Werk genannt werden kann. Nur das Veto hatte gegen seinen Willen als eine Concession an die neue Demokratie Eingang gefunden. So war die alte Ordnung der Dinge beinahe widerstandslos hinweggespült und Müller-Friedberg, der Repräsentant der Mediations- und Restaurationszeit, beseitigt; als sein voller Erbe stand B. da als Landammann des Kantons St. Gallen, als dessen erster Gesandter an die Tagsatzung und sogar als Redactor des „Erzählers“, eines der einflußreichsten, von Müller-Friedberg gegründeten Zeitungsblätter der deutschen Schweiz.

Und ähnlich, wie sich der in der Vollkraft seiner Jahre stehende Mann im Sturme so sehr maßgebenden Einfluß in seinem Heimathkanton erworben hatte, daß dieser innerhalb des nächsten Jahrzehnts oft der „Kanton Baumgartner“ genannt wurde, ähnlich errang er sich in kürzester Zeit eine der gewichtigsten Stimmen in den allgemeinen eidgenössischen Angelegenheiten. Ueberall trat er mit seinem gewaltigen Wort bei den heftigen Parteiungen in einzelnen Kantonen für die Beseitigung jeglicher Art von Bevorzugung und Bevormundung in die Schranken und donnerte wie Einer gegen Pfaffen, Jesuiten und Aristokraten; die Versuche des Auslandes, sich in die schweizerischen Angelegenheiten zu mischen, wurden nach seiner Ansicht lange nicht entschieden genug von der Hand gewiesen; der Versuch der Jahre 1832 und 33, eine centralisirende Revision des Bundesstatuts durchzusetzen, hatte seine volle Theilnahme, und um die liberalen Errungenschaften zu behaupten, besann er sich keinen Augenblick, mit aller Kraft darauf hinzuarbeiten, daß zwischen sieben der regenerirten Kantone ein besonderes Concordat zu gegenseitiger Garantie der an die Spitze ihrer neuen Verfassungen gestellten Volkssouveränität und zwischen den liberalen katholischen und gemischten Kantonen ein besonderes Uebereinkommen zur Sicherung gegen die clericale [167] Reaction zum Abschluß gebracht wurde. Das erstere war das sog. Siebnerconcordat, das letztere die sog. Badener Artikel. So hatte B. mit Macht in die Geschichte seines Vaterlandes eingegriffen und stand Ende der dreißiger Jahre auf der Höhe seines Ansehns und seines Ruhms, als sich in seinem Kanton junge Männer zeigten, die auf der von ihm eingeschlagenen Bahn noch weiter vorwärts wollten und überhaupt Anspruch darauf machten, in öffentlichen Angelegenheiten ebenfalls mitzusprechen, ohne sich unter seine Oberleitung zu stellen; gleichzeitig tauchte an der Tagsatzung in Schultheiß Neuhaus von Bern ein noch gewaltsamerer und rücksichtsloserer Führer der schweizerischen Radicalen auf. In dieser Zeit der wachsenden Verstimmung darüber, daß sein bisher Alles überwiegender Einfluß und seine bisher unbestrittene Führerschaft der radicalen Partei gefährdet zu werden begann, kam die Aargauer Klosterfrage an die Tagsatzung (1841). Gerade der Umstand, daß seine politischen Nebenbuhler sich sofort mit aller Entschiedenheit für Aufhebung der Klöster aussprachen, bewog B. gewiß nicht am wenigsten, sich zuerst für theilweise, dann für allgemeine Wiederherstellung derselben auszusprechen. Der Bruch mit den radicalen Parteigenossen war damit vollzogen und die Führerschaft des schweizerischen Radicalismus verscherzt. Begreiflich, daß seine st.-gallischen radicalen Gegner in das nun gegen ihn allseitig erhobene Geschrei mit einstimmten, und dadurch ließ sich der reizbare Mann in dem ungünstigsten Augenblicke verleiten, auch seinen Heimathkanton durch das Entlassungsgesuch aus der Regierung zum Entscheid zwischen ihm und seinen radicalen Collegen und nunmehr offenen Widersachern zu drängen. Trotz der beinahe einstimmigen Bitten des Großen Raths, seine Stelle beizubehalten, beharrte er auf der Entlassung, ohne Zweifel in der Vorraussetzung, daß es ohne ihn doch nicht lange gehen könnte. Mit diesem Schritte war es auch um seinen maßgebenden Einfluß im Kanton St. Gallen geschehen. Als die radicale Partei sich nach Baumgartner’s Rücktritt um ihre jüngeren Häupter schaarte und es doch ging, suchte das alte radicale Parteihaupt seine Stütze auf conservativer Seite und gelangte mit Hülfe derselben und eines Bruchtheils früherer persönlicher Anhänger zwar schon 1843 noch einmal als erstes Mitglied in die Regierung, behauptete sich auch bis 1847 in der höchsten Landesbehörde, während sich die Gegensätze immer schärfer zuspitzten. Dann aber trieb ihn die leidenschaftliche Erregung der Sonderbundszeit nicht blos aus der Landesvertretung, sondern für kürzere Zeit sogar aus dem Vaterlande.

Schon im Frühjahr 1848 kehrte er indeß von Wien wieder in das Vaterland zurück und nahm seinen Platz im Großen Rath wieder ein, wo er sich bald offen zu Gunsten der neuen Bundesverfassung aussprach. Seinen Lebensunterhalt erwarb er sich durch die Redaction eines von ihm gegründeten Zeitungsblattes und durch zeitgeschichtliche Veröffentlichungen, dann durch eine Anstellung bei den neuentstehenden st.-gallischen Eisenbahnen. Im Jahre 1857 sandte ihn der st.-gallische Große Rath in den Ständerath und 1859 brachte eine besondere Constellation der Parteien den alten Kämpfer noch einmal in den Regierungsrath und sogar auf den Landammannstuhl. Trotz der Verfassungsstürme von 1861 und der Unvorsichtigkeit, mit welcher B. seinen erbitterten Gegnern durch unkluge Zeitungspolemik selbst die wirksamsten Waffen gegen ihn in die Hand gab, gelang es der radicalen Partei erst 1864, ihn zum zweiten Male aus der Regierung zu entfernen. Die dadurch neuerdings erlangte unfreiwillige Muße benutzte B. zu abermaliger Aufnahme seiner zeitgeschichtlichen Arbeiten. Es gelang ihm, sein vierbändiges Hauptwerk: „Die Schweiz in ihren Kämpfen und Umgestaltungen von 1830–1850“ zu Ende zu führen; von einer auf drei Bände berechneten „Geschichte des schweizerischen Freistaates und Kantons St. Gallen mit besonderer Beziehung auf Entstehung, Wirksamkeit und Untergang [168] des fürstlichen Stiftes St. Gallen“ waren zwei Bände erschienen, als der Tod den nimmermüden Arbeiter hinwegnahm.

Joseph Grimm[1], Landammann Baumgartner, kurze Skizze einer großen staatsmännischen Laufbahn. Luzern 1869. A. Hartmann, Gallerie berühmter Schweizer der Neuzeit. Bd. 2. Baden i. A. 1872.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 168. Z. 3 v. o. l.: Jos. Gmür. [Bd. 2, S. 798]