Anna Carina's Reviews > Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen by Émile Zola
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bookshelves: 001-19-jahrhundert, 070-europa-mittel-sued-west, 071-frankreich

3,5 Sterne

Mein erster Zola. Insofern kann ich das Buch nur alleinstehend beurteilen.
Die technische und industrielle Revolution steht im Vordergrund - die Bestie Maschine, in diesem Fall die Eisenbahn, die Lok Lison wird empathisch aufgeladen, in fulminante Szenerien eingebunden und liebevoll durch den Lokomotivführer Jaques umsorgt.

"Die Schnellzugslokomotive ließ aus einem Ventil einen mächtigen Dampfstrahl heraus. Der weiße Strahl stieg hinauf in all dieses Schwarz und zerstäubte dort in kleine Rauchwölkchen und diese bethauten das so unsäglich weit am Himmel ausgespannte Kleid des Todes mit ihren heißen Thränen."

"Jetzt erwachte bleich der Tag, aber es schien, als rührte dieser durchsichtige Schimmer nur vom Schnee her. Er fiel noch dichter, es war, als wäre der Himmel geborsten und seine Trümmer sänken im eisigen Grauen des Morgens auf die Erde. Der Wind nahm mit dem Tage an Heftigkeit zu, die Flocken wurden wie Kugeln dahingejagt, alle Augenblicke mußte der Heizer zur Schaufel greifen, um die Kohlen des Tenders zwischen den Wänden des Wasserbehälters frei zu schippen. Rechts und links erschien die Landschaft den beiden Männern so undeutlich wie in einem flüchtigen Traum: die meilenweiten flachen Felder, die von lebendigen Hecken eingefaßten Weideplätze, die mit Obstbäumen eingehegten Chausseen waren ein einziges, kaum von niedrigen Schwellungen unterbrochenes weißes Meer, eine zitternde, blasse Unendlichkeit, in deren Weiß Alles aufging. Der Lokomotivführer, das Gesicht gepeitscht von der Windsbraut, die Hand an der Kurbel, begann jetzt fürchterlich von der Kälte zu leiden."


Die genauen Zeitangaben und getimeten Gleisstellungen und Signallichter bieten fast die einzige Ordnung und Orientierung in dem Roman.
Der Mensch wird dramatisch mit unvorhersehbaren, sprunghaften Verhaltensweisen der Gewaltneigung dargestellt. Zola liefert einen Kriminalfall.
Die gerichtlichen Szenen schmückt Zola mit reichlich parodistischem Potential die Unzulänglichkeiten menschlicher Urteilsfähigkeit herauszustellen. Frei nach dem Motto: "Was ich mir nicht vorstellen kann, kann auch nicht wahr sein".

"Damit war also der Beweis einer außerordentlich geschickt gemachten Verbindung Beider erbracht. Der Richter durchhechelte die Psychologie dieses Falles mit einer wahrhaften Liebe zu seinem Berufe. Noch nie, so erzählte er, sei er so tief in die menschliche Natur eingedrungen. In ihm siegte das Ahnungsvermögen über die Beobachtungsgabe. Er gehörte zu der Schule der sehnenden und fascinirenden Richter, die durch einen einzigen Augenaufschlag den ganzen Menschen bloßlegen. Die Beweise waren übrigens ebenfalls in erdrückender Menge zur Stelle. Noch nie hatte eine Untersuchung eine solidere Basis ergeben, die Gewißheit blendete geradezu wie das Licht der Sonne selbst."

Drumherum noch ein bisschen Besessenheit, für Geld zu töten. Verschmähte Liebe und ein Akt der Rache. Einer, der kein Handwerkszeug besitzt, sich in einer veränderten systemischen Situation zu Verhalten, zu Kommunizieren und im Sumpf des Alkohols und der Spielsucht verrottet. Das Begehren zweier Liebender und die Macht der genetischen Disposition bzw. sozialen Prägung.

"Eine Ignorantin wie sie, die in ihrer passiven Milde nichts gelernt hatte, konnte nicht anders als gehorchen: ein williges Instrument für die Liebe wie für den Tod."

"Frauen brachten seinem Geschlecht Unheil"


Zola wütet sprachlich teilweise wie ein heißer Sandsturm. Ich bin von einigen Kapiteln sehr beeindruckt. Allerdings hat er einen äußerst plakativen Stil die Szenerien zu gestalten und die Figuren agieren zu lassen. Dies wirkt auf mich stellenweise wie ein Kasperletheater. Jemand, der grad nicht im Fokus steht wird in eine Kiste gepackt und darf im entscheidenden Moment auf einer Sprungfeder wieder ins Geschehen schießen. Die Handlungen und Abläufe wirken äußerst konstruiert. Man liest das Schema so arg heraus. Bin kein Fan dieser übertriebenen Gesten in Zusammenhang mit abrupt wirkenden, parodistischen Einschüben.
Das Ende gibt dem Buch dennoch eine zufriedenstellende, runde Note. Eine Fahrt in den Wahnsinn.
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Reading Progress

December 8, 2023 – Started Reading
December 8, 2023 – Shelved
December 8, 2023 –
6.0% "Whohooo! Wahnsinn 🤩….
So etwas lebhaftes, bildgewaltiges, komplett einnehmendes hab ich selten gelesen.
Ich bin Feuer und Flamme für Zolas Schreibe.
Ha, da schreibt einer mit Passion. Ein heißer Sandsturm der da wütet! Krass 🫠"
December 9, 2023 –
15.0% "Ok, die erste Feuersbrunst ist gelöscht. Es wallte zwar gerade nochmal ein neues Feuerchen auf, erstickt jedoch sofort an lächerlicher Situationskomik und übertriebenen Gesten. Jetzt nicht schon schlapp machen Zola!"
December 10, 2023 –
24.0% "Nun muss der Mord aufgeklärt werden.
Ein „aufgeknöpfter Verstand“, ein „famoser Mörder“, herrlich dick aufgetragen. Zola macht Spaß."
December 12, 2023 –
51.0% "Man kann Zola wirklich nicht vorwerfen monoton zu erzählen. Nach längerer ruhiger Phase von Einfluss und Urteilsbildung im Mordfall, über eine leidenschafliche Liebe,hin zum Zersetzungsprozess Roubauds, geht’s spektakulär mit der Lok Lison, kometenschweifsprühend durch den Schneesturm 🤩 imposante Szene!"
December 12, 2023 –
64.0% "Jenseits von Gut und Böse.Moralisieren kennt Zola nicht.Reine soziologische Beobachtungen.Bin an Kierkegaard zu Taten aus Angst erinnert.Nach Mordgeständnis:
„…riß sie J.an sich und S.gab sich ihm willenlos hin.In einander wie unauflöslich verschlungen, suchten sie im Reiche des Todes die Liebe mit derselben schmerzlichen Sinneslust wie die Thiere,die sich während der Brunst die Eingeweide zerreißen.“"
December 14, 2023 –
73.0% "Der deterministische(Vererbung/Umwelt)Naturalismus Zolas:
„er mußte ihn aus Hunger oder Leidenschaft zerfleischen können.Was konnte er dafür,daß das Gewissen aus den überlieferten Ansichten einer langsamen Gerechtigkeitsvererbung sich zusammensetzte!Er fühlte sich nicht berechtigt zu tödten“
„Sie bedauerte es,eine Frau zu sein und daß es ihre duldsame Milde nicht zuließ,selbst zu morden.“
😒"
December 14, 2023 –
83.0% "Uff, Kapitel 10 war das reinste Schmierentheater. Da stimmt so gut wie nix. Meine ganze verzagende Sympathie gilt der zerstörten Lison 😢 Der Rest des Kapitels kann weg.
Verkackt Zola es auf den letzten Metern?
🤨"
December 15, 2023 –
99.0% "Die letzten 3 Kapitel sind extrem plakativ, übertrieben parodistisch aufgeladen. Da holt Zola einen fiesen Zynismus hervor, der mir in der stilistischen Umsetzung gar nicht mundet.
Zum wiederholten Male wird auf Cabuches Optik rumgeritten, damit auch der letzte Trottel kapiert: ja, sieht genauso grobschlächtig wie ein Mörder aus, also muss er auch einer sein. Die Abschlusszene ist wiederum vorzüglich."
December 15, 2023 – Finished Reading

Comments Showing 1-5 of 5 (5 new)

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Armin Mir erschien Flaubert seinerzeit (80er, Anfang(Mitte 20) als die höhere artistische Potenz), wie ist Dein aktueller Eindruck?


Anna Carina Armin wrote: "Mir erschien Flaubert seinerzeit (80er, Anfang(Mitte 20) als die höhere artistische Potenz), wie ist Dein aktueller Eindruck?"

Huh, Du hast mitbekommen dass ich an Flaubert etwas abpralle? Und Zola mir die maximale Immanenz, den vollen Körperkontakt gewährt? Aber ja, ich empfinde Flaubert aktuell auf einer intellektuellen Ebene deutlich geschliffener. Allein was der für Wörter und Satzkonstruktionen rausboxt. Ist für mich, als müsste ich ein komplexes, scharfes thailändisches Curry (Zola), deren Küche zu einer der besten der Welt zählt, mit einer Küche vergleichen, die auf den Eigengeschmack best ausgewählter Zutaten im Sous Vide Verfahren setzt.


Alexander Carmele Ups ... ich glaube, ich bin da gutmütiger. Das muss ich jetzt mal sacken lassen 🙃 die Art, szenisch das Gemüt mit der Beschreibung vor Augen zu führen, diese Art der Komposition, wie das langsam alles zusammenschießt, die Wortwahl, die Konsistenz in der Beschreibungshöhe lässt mich mehr an 4,5 Sterne denken, eigentlich 5 ... ich weiß nicht, stellenweise hat es mich etwas gelangweilt, aber nicht im Rückblick. Ich denke noch mal nach. Und "Lison", ich mag die Lison so sehr, alleine deshalb mag ich das Buch 🤗


Anna Carina @Alex: natürlich bist Du gutmütiger. Aber Hey, Du tust ja so als hätte ich zum Vernichtungsschlag ausgeholt. 3,5 Sterne sind gut. Aber nur für Lison die vielleicht 20% des Buches ausmacht- no way für 5 Sterne. Ich kann gerne nochmal Mathenachhilfe anbieten 🤪😝


Mupus Germinal ist in meinen Augen sein bestes Werk, falls du wieder zu Zola greifen solltest.


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