Anna Carina's Reviews > Der Totschläger

Der Totschläger by Émile Zola
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Knallharter, schmerzvoller Realismus, der die Verschränkungen von persönlichen Entscheidungen und sozialen Umständen erforscht. Die sozioökonomischen Bedingen und die Rolle der Sprache bestimmen das Bild. Ein Arbeiterviertel, von Armut durchzogen.

Gervaise, von Lantier sitzen gelassen. Eine pragmatische, zupackende Frau mit bescheidenen Idealen:

„Mein Gott, ich bin nicht ehrgeizig, ich verlange nicht viel ... Mein Ideal wäre es, ruhig zu arbeiten, immer Brot zu haben, ein reinliches Kämmerchen zum Schlafen, nicht geschlagen zu werden, Schließlich könnte man noch wünschen, in seinem eigenen Bette zu sterben ... Wenn ich mein ganzes Leben lang mich matt und müde gearbeitet habe, möchte ich gern in meinem eigenen Bette sterben."

„Ihr einziger Fehler, versicherte sie, sei, zu gefühlvoll zu sein, alle Welt lieb zu haben und sich für Leute zu erwärmen, die ihr hernach tausend Ungelegenheiten machten. Wenn sie daher einen Mann liebe, denke sie dabei an keine Dummheiten, ihr Traum sei immer, zusammen zu leben und glücklich zu sein“

„Sie verglich sich mit einem Sou, den man in die Luft geworfen und der nun entweder mit Kopf oder Schrift nach oben herniederfallen könne je nach den Zufälligkeiten des Pflasters“


Sie lässt sich auf eine Ehe mit dem Zinkarbeiter Coupeau ein. Alles läuft die ersten Jahre harmonisch. Coupeau lehnt das Trinken ab und beide arbeiten hart um etwas Geld beiseite zu legen. Ein Dachsturz Coupeau’s läutet die Wende ein. Er beginnt nach langer Genesungszeit, die das Ersparte auffrisst, mit dem Alkohol und kommt nicht mehr recht ans Arbeiten.
Gervaise freundet sich mit dem Nachbarn und Schmied Goujet an, der ihr das Geld für ein Ladenlokal leiht, in dem sie eine Feinwäscherei eröffnen kann. Sie ist durchsetzungsstark und voller Eros – Lebensenergie, positiv aufgeladen, mit einem Begehren, das nach vorne strebt und sie im Rahmen des eng gesetzten Handlungsspielraumes beeindruckend agieren lässt.
Sie nimmt ihre Schwiegermutter auf beengtem Raum auf und ist lange Zeit Alleinverdiener.
Coupeau trägt nur hin und wieder zu den Unterkünften bei. Von den Geschwistern Coupeaus ist nicht viel zu erwarten. Insbesondere Madame Lorilleux wird als missgünstige Figur inszeniert.
Zola lässt wenig Raum für gemeinschaftlich, soziales Verhalten. Die Figuren strampeln weitestgehend allein für sich hin. Es wird sich am Elend des anderen ehr ergötzt. Man findet ganz unten immer einen Weg noch weiter nach unten treten zu können.
Gervaise steht über diesem Benehmen. Selbst als Humpelliese bezeichnet, lässt sie sich nicht beeindrucken.

Man muss Zolas liebevollen Blick auf die Härte der Menschen und ihrem Leben genau suchen. Er ist aber da. Hier und da blitzt etwas wie Freundschaft hervor. Die Wäscherei Frauen, die an einem klirrend kalten Tag ihren Kaffee schlürfen, plaudern und sich nahe kommen. Der alte, heruntergekommene Mann, der zum Essen eingeladen wird und die reichende Hand Goujet’s, der Gervaise liebt.

Das war ein Traumleben in dem Werk eines Riesen, inmitten der flammenden Kohle, unter diesem wackelnden Schuppen, dessen rußige Balken krachten. All dieses zerschmetterte Eisen, das wie rotes Wachs gefügig sich formen mußte, trug den rauhen Stempel ihrer Zärtlichkeit. Wenn die Wäscherin Freitags das Löwenmaul verließ, stieg sie langsam die Fischerstraße hinauf; sie war befriedigt und ihr Geist sowie ihr Körper hatten ihr Gleichgewicht wiedergewonnen.

Und jetzt kommt es zum Bruch!
Die Charaktere Zolas sind in einem Übermaß des Symbolischen gefangen. Der soziale Code erdrückt. Die Figuren sind weitestgehend nicht reflexiv. Sie haben keinen ausreichend sprachlich ausdifferenzierten Code sich zu reflektieren und in Beziehung zu setzen. Die Verankerung in der symbolischer Ordnung, den Normen, Regeln, Erwartungen, Rollenbildern, dem wovon das Schicksal angeblich bestimmt sei, ist das Außen. Das Subjekt ist in einer ewigen Reproduktion der gleichen sozialen Muster gefangen, die keinen Raum für Transformation lassen. Man sieht sich als Opfer des Schicksals.
Das Symbolische taugt schon mal überhaupt nicht, die Realität zu bewältigen.
Also Flucht ins Imaginäre – die Träume, das Begehren und die Unmöglichkeit eine vollständige Befriedigung zu finden. In diesem prekären Umständen eine absolute Unmöglichkeit. Soziale Auffangnetze sind nicht vorhanden.
Was passiert wenn Eros abhanden kommt? Wenn die Figuren sich auf einem Schauplatz des Leidens wiederfinden? Traumata, Erlebnisse, die eine Leere erzeugen.
In Gervaise Fall das Eingeständnis:

„Er glich dem andern, dem Trunkenbold, der da oben schnarchte, nachdem er sich müde geschlagen hatte. Da legte es sich ihr wie Eis aufs Herz, sie dachte an die Männer, an ihren Ehemann, an Goujet, an Lantier, und mit zerrissenem Herzen verzweifelte sie daran, jemals glücklich zu werden.“

Gervaise entwickelt aus dem Mangel und dem Versuch mit dem Realen, dem Unausprechlichen in Kontakt zu kommen eine Mehrlust, die als Dekadenz ausgelegt wird. Völlerei und Kontrollverlust über die Finanzen, in dem Versuch es sich gut gehen zu lassen.
Der Alkoholismis und Gewalt ist ebenfalls über diesen Aspekt zu erklären.

Zola weist Gervaise und den Figuren überall Türen, Verantwortung für das eigene Leben übernehmen zu können. Nana, die Tochter Gervaise bekommt die Möglichkeit ihren Beruf selbst wählen zu dürfen. Revolutionär. Gervaise steht an sich für Freiheit und Öffnung. Prügelt dies hinterher komplett zu Brei.
Die reichende Hand Goujet’s wird nicht ergriffen. Weil man es sich sich nicht vorstellen kann, dass ein Traum in der eigenen sozialen Verankerung wahr wird, der nur der vornehmen Gesellschaft vorbehalten ist. Man verweist sich selbst auf seinen Platz. Gervaise opfert sich selbst. Sie fällt nicht zum Opfer, sie setzt sich als solches, für eine Hoffnung auf eine diffuse, äußere Macht, das Schicksal.

“ Und es wäre eine Dummheit sicherlich ... Nein, seht Ihr wohl, dafür ist es besser, daß alles beim alten bleibt. Wir achten einander, unsere Gefühle stimmen überein. Das ist viel und hat mich schon mehr als einmal aufrecht erhalten. Wenn man in unserer Lage anständig und ehrenwert bleibt, wird es einem einst vergolten werden.

Persönliche Entscheidungen verflechten sich mit den Grenzen der sozialen Struktur. Hoffnungen und Träume werden externalisiert.

Zola nutzt Lantier und Goujet als faszinierende Charaktere, die sich als Kontrast zum Determinismus lesen lassen.
Lantier, der Charmeur und Manipulator. Der die Oberflächlichkeit und sozialen Strukturen nutzt um seine Vorteile daraus zu ziehen. Zweifelhaftes Verhalten als Ausweg.
Goujet, der leise, im Hintergrund, seine Integrität bewahrt. Zurückhaltung und Kontrolle über seine Triebe und sein Begehren zeichnen ihn aus. Er zerbricht nicht an dem Eingeständnis sein Glück (in der unerfüllten Liebe mit Gervaise) nicht zu finden.

Zola weist in seinem erbarmungslosen Strudel des Verfalls, auf die Möglichkeit der Würde.

Ich habe selten ein Buch gelesen, das so knallhart draufhält, verstört und schmerzt. Grandios!
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Reading Progress

December 16, 2023 – Shelved
March 15, 2024 – Started Reading
March 15, 2024 –
12.0% "Ja,das liegt mir mehr als „die Bestie“,um nicht zu sagen, ich bin gerade sehr angefasst. Keine Übertreibungen oder sonstige unauthentisch wirkenden Inszenierungen, die mich in die Bestie gestört haben. Realismus hart, dreckig, schmerzhaft. Klare Schnauze einer Welt, wo man ganz unten ums Überleben kämpft. Man fällt in jedem Fall. Die Frage ist nur Kopf oder Zahl.Bisher frei von moralisierenden Botschaften."
March 16, 2024 –
22.0% "Die Rolle der Frau als Ehefrau und Mutter, Frankreich 19.Jahrhundert, Arbeiterklasse:
Gesellschaftliche Normen und Erwartungen als absolute Beschränkung. Sie verhinderten nicht nur die persönliche Entwicklung, sondern führten auch zu einem Leben voller Selbstzweifel und Schuldgefühle, wenn sie den Erwartungen nicht entsprechen konnten.
Zitat des Textes in den Kommentaren. Die Frau hat soeben alleine entbunden:"
March 16, 2024 –
43.0% "„Das war ein Traumleben in dem Werk eines Riesen,inmitten der flammenden Kohle,unter diesem wackelnden Schuppen,dessen rußige Balken krachten.All dieses zerschmetterte Eisen,das wie rotes Wachs gefügig sich formen mußte, trug den rauhen Stempel ihrer Zärtlichkeit…sie war befriedigt und ihr Geist sowie ihr Körper hatten ihr Gleichgewicht wiedergewonnen.“"
March 16, 2024 –
57.0% "Ok, es ist besiegelt. Entscheidung getroffen. Weil es so muss. Gefangen in den Strukturen der sozialen Umgebung. Gebrochen. Es wird geopfert. Das Schicksal wird nicht durch individuelle Entscheidungen bestimmt- NORMEN!

Jetzt wird das Buch für mich unerträglich. Das Feuer ist erloschen 😤😢"
March 17, 2024 –
75.0% "Zola gewährt Lücken der Handlungsspielräume.Ab der zweiten Hälfte des Buches wird keine mehr genutzt.
Lalie, die Nachbarin wird vom Vater misshandelt. Gervaise kümmert sich um sie.Gervaise hat schon den Stuhl in der Hand um einzuschreiten,als Lalie ausgepeitscht wird.Die Reaktion Lalies führt zu folgender unerträglicher Erkenntnis- Sieg dem Todestrieb: Zitat im Kommentar"
March 17, 2024 – Finished Reading

Comments Showing 1-9 of 9 (9 new)

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Alexander Carmele Du hast schneller Worte als ich gefunden. Ich brauche noch. Das war mir schlicht zu viel. Das gebe ich zu. Deine Figurenzeichnungen, da gehe ich mit. Mir ist die Rolle des Erzählens hier noch nicht klar - ich bin hin und her gerissen, von Anfang an habe ich das Scheitern verspürt. Kompositorisch hat mir der Roman von der ersten Seite an den Atem, die Freiheit genommen. Er hat mir jede Hoffnung zerschlagen, dass Gervaise mit dem blauen Auge davon kommt - und dafür hasse ich die Welt, dass so etwas passieren kann. Die Szene mit Lalie hat mich völlig in die Verzweiflung gestürzt. Nein, Zola betreibt keinen Voyeurismus. Das stimmt, aber ... irgendwie ... ziehe ich aus dem Buch keinen Widerstandsenergie. Ich liege mit Gervaise unter der Erde und heule!😳


message 2: by Anna Carina (last edited Mar 17, 2024 12:44PM) (new) - rated it 5 stars

Anna Carina Alexander wrote: "Du hast schneller Worte als ich gefunden. Ich brauche noch. Das war mir schlicht zu viel. Das gebe ich zu. Deine Figurenzeichnungen, da gehe ich mit. Mir ist die Rolle des Erzählens hier noch nicht..."

Die Widerstandsenergie ist bei Goujet zu finden.

Lalie hat mich ebenfalls völlig aus der Fassung gebracht.

ich sehe das allerdings so: Zola prügelt dich weich, da gibt es kein durchschreiten in der Sprache. So viel Wut sammeln, dass du als Leser laut NEIN schreist. SO NICHT. Der völlige Sturz, der Fall in die dunkelsten Ecken ist oft nötig um die Energien frei zu setzen etwas zu ändern. Die Freiheit muss genommen werden, um sie wiederzufinden! Er schnürt dir bewusst sprachlich und Kompositorisch alles ab, damit du du dich abarbeitest und Krieg beginnst. Er lässt dich als Leser in deiner Negation erleben. Er triggert den Hegel.
Mir geben solche Texte unfassbar viel Kraft und Energie. Und nach Lacan gelesen, so was von Universell. Und dann gilt, mit dieser Wut nicht zertrümmern, sondern Würdevoll wie Goujet die Hand reichen. Thanatos im Strudel als Ratio und Vernunft walten lassen :-D Ha! Der Zizek, mein Held.

Du bist noch in einer Schockstarre. Interessant ist, was der Text in den nächsten Tagen mit dir macht.


Alexander Carmele Anna Carina wrote: "Alexander wrote: "Du hast schneller Worte als ich gefunden. Ich brauche noch. Das war mir schlicht zu viel. Das gebe ich zu. Deine Figurenzeichnungen, da gehe ich mit. Mir ist die Rolle des Erzähle..."

Ich sehe das wie du - und du legst den Finger darauf. Der Text erzeugt die Energie nicht. Er setzt sie wohlmöglich frei, aber ich bin müde, und nun hat der Text mir eine Aufgabe gegeben, die ich eigentlich nicht wollte - ich zertrümmere jetzt das Sein in Solidarität mit Gervaise, okay, aber ich hätte es schon schön gefunden, wenn Zola nicht mir alles überlassen hätte. Ich nörgle nur herum - aber ich finde, ich habe einen Punkt. Der Text hämmert wie die Schmiedemaschine auf mich ein, und ich muss den Schlägen ausweichen. 😳🦭


Anna Carina Alexander wrote: "Anna Carina wrote: "Alexander wrote: "Du hast schneller Worte als ich gefunden. Ich brauche noch. Das war mir schlicht zu viel. Das gebe ich zu. Deine Figurenzeichnungen, da gehe ich mit. Mir ist d..."

Nein! Das Ausweichen hat dich müde gemacht. Du hättest ihn dich in den Boden prügeln lassen müssen.
Ok ich gebe zu, dass das äußerst sadistisch von Zola ist. Entweder er hat dich und du beginnst den Krieg oder er lähmt dich.
Er gibt dir keine großartigen Spielräume. Das ist wahr.
Ich mag das. Dadurch geht es ums Ganze. Rausschlawienern ist da nicht, wenn man gerade etwas unpässlich ist.


message 5: by Anna Carina (last edited Mar 17, 2024 01:34PM) (new) - rated it 5 stars

Anna Carina Alexander wrote: "Ich nörgle nur herum."

Ich wetz schon mal den Stahl und mach die Waffen einsatzbereit. Wenn du dich dann ausgemault hast, kannst dir eine aussuchen 🤪
Dass ich mal einen auf Alabanda machen muss ...


Alexander Carmele Grrrh…. Bin ja nicht anderer Meinung. 😫


Literatursprechstunde Tolle Rezi - vielen Dank 🥰 Bin immer wieder von deiner Wortwahl und vor allem Treffsicherheit bezüglich jeglicher Thematik geflasht 💖 Tatsächlich wurde mir zugetragen, dass sich das Buch vermehrt um Alkoholismus dreht, das lässt sich jetzt bei dir nicht rauslesen und war folglich wahrscheinlich eine Fehlinfo, oder ?


Anna Carina Victory_of_Books wrote: "Tolle Rezi - vielen Dank 🥰 Bin immer wieder von deiner Wortwahl und vor allem Treffsicherheit bezüglich jeglicher Thematik geflasht 💖 Tatsächlich wurde mir zugetragen, dass sich das Buch vermehrt u..."

Hach, vielen Dank 🤗 Doch, der Alkoholismus spielt eine dominante Rolle. Bei Gervaise schlägt er erst am Ende zu. Ihren Mann bekommen wir in sämtlichen Stadien geboten. Richtig übel. Ich wollte nur die weiteren bzw. übergeordneten Schichten des Textes aufgreifen, um die Komplexität und den umfassenden Blick von Zola herauszuarbeiten.


Literatursprechstunde Ok, vielen Dank für die Erklärung, ist nachvollziehbar! War nur verwundert, weil es hieß, es drehe sich in dem Buch alles rund um den Alkoholismus, aber deswegen muss er ja nicht den Kern einer Rezi sein. Also ohne das Buch gelesen zu haben, finde ich man bekommt durch deinen Text einen enorm guten Einblick.


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