Eine karikaturhafte Selbstanklage und ein Abgesang auf die Moralphilosophie. Machtgier, Manipulation und Heuchelei stehen fett im Kurs.
Clamence, von BeEine karikaturhafte Selbstanklage und ein Abgesang auf die Moralphilosophie. Machtgier, Manipulation und Heuchelei stehen fett im Kurs.
Clamence, von Beruf Bußrichter, outet sich durch seine Rhetorik schon sehr früh im Buch als manipulativer Zyniker. In einem Scheindialog, der ein Monolog ist – der Gesprächspartner kommt nie zu Wort, Clamence reagiert lediglich auf vereinzelte, angedeutete Aussagen – labert er den Leser mit Verzerrungen existentialistischer Themen in einem selbstgefälligen, belehrenden Ton an die Wand. Ein dogmatischer Charakter, der seine Beobachtungen, Erkenntnisse und das Subjekt absolut setzt. Die Rhetorik des Buches zielt darauf ab, keine kritische Prüfung zuzulassen. Eine unbewegliche Haltung, die keine Abweichung von den festgelegten Prinzipien erlaubt. Begriffe wie „Schuld“ werden lediglich als Maske verhandelt.
Dieses Zitat zeigt exemplarisch die gesamte Strategie des Textes: alles speist sich aus dem Wunsch nach Macht und Kontrolle – eine strategische Verengung.
„In Tat und Wahrheit– Sie wissen es selber genau – träumt jeder intelligente Mensch davon, ein Gangster zu sein und mit roher Gewalt über die Gesellschaft zu herrschen. Da dies nicht so einfach ist, wie die einschlägigen Romane glauben lassen mögen, verlegt man sich im Allgemeinen auf die Politik und läuft in die grausamste Partei. Aber, nicht wahr, man kann ja seinen Geist ruhig erniedrigen, wenn einem dafür alle Welt untertan wird! Ich entdeckte in mir süße Unterdrücker-Träume. Zumindest merkte ich, dass ich einzig und allein so lange auf Seiten der Schuldigen, der Angeklagten stand, als ihr Vergehen mir nicht zum Nachteil gereichte. Ihre Schuld verlieh mir Beredsamkeit, weil nicht ich ihr Opfer war. Fand ich mich selbst bedroht, so wurde ich nicht nur meinerseits zum Richter, sondern darüber hinaus zum jähzornigen Gebieter, der ohne Ansehen der Gesetze danach verlangte, den Delinquenten niederzuschlagen und in die Knie zu zwingen. Nach einer solchen Feststellung, Verehrtester, ist es recht schwierig, weiterhin ernsthaft zu glauben, man sei zur Gerechtigkeit berufen, zur Verteidigung der Witwen und Waisen prädestiniert.“
Seine These: Wir setzen uns nur so lange für Gerechtigkeit ein, wie wir selbst nicht betroffen sind. Sobald man uns an die Wäsche will, übernehmen die Triebe, der Zorn, der bei Clamence lediglich an Herrschsucht gebunden ist.
Der Wunsch, ein Gangster zu sein, wird moralisch interpretiert und damit auch der Zorn, der für ihn die logische Konsequenz darstellt. Dass der Wunsch nach dem Gangstertum ein Symptom der Verzweiflung und des Bedürfnisses nach Anerkennung sein könnte, wird ignoriert. Die Argumentation bekommt eine Schlagseite. Es kann nur so sein und nicht anders. Keine Ambivalenzen sind möglich, was selbstredend rein destruktiv geformt ist. Der zynische Tonfall springt ins Auge. Ernsthaftigkeit wird verspottet. Jedwede alternative Denkweise wird entfremdet.
Clamence generalisiert und erhebt universalistische Ansprüche wie „jeder intelligente Mensch“. Zudem gibt es keine Erklärung dafür, was darunter zu verstehen ist. Die Generalisierung wird einfach so platziert, dass sie weder reflektiert noch hinterfragt wird. Er zwingt in eine Zustimmung, ohne dass eine Diskussion stattfindet.
Verschleierung, Verkürzung, Überspitzung und Komplexitätsreduktion.
Hier entsteht überhaupt kein Zwischenraum. Weder auf der Inhaltsebene noch auf der sprachlichen Ebene. Ich kann mich nur damit identifizieren oder es ablehnen. Wenn ich es ablehne, passiert aber nichts weiter. Der Text gibt sprachlich, stilistisch keine Möglichkeit mit meinem Nein weiter zu arbeiten. Ein Konflikt wird eröffnet, der ungelöst bleibt, jegliche Grundlage für Verständigung wird untergraben, da er nur den Schluss der Selbstgerechtigkeit zulässt.
Die Sprache ist bewusst in einem Überlegenheitsdünkel gewählt. Sie wird zu einem Werkzeug der Kontrolle, nicht der Kommunikation. Stilistisch lässt der Text keine Interaktion zu und bewegt sich sprachlich in einer geschlossenen Schleife. Produktives Reagieren ist somit nicht möglich. Als Leser wird man in diese rhetorische Falle gesperrt, in die Ecke gedrängt und mit verdrehten, relativierenden Aussagen gequält.
Ich denke dass auch deutlich wird, dass eine ernsthafte Beschäftigung mit philosophischen Konzepten durch diese Konzeption des Textes nicht gegeben ist.
Worum geht es denn dem Text? Die Absicht ist etwas, das er verhältnismäßig oft erwähnt. Die Absicht geht bei ihm der Tat voraus. Und! Sie ist bei ihm natürlich von Zynismus und Selbstzweifel durchsetzt. Jegliche Handlung muss bei ihm daher scheitern. Clemens nutzt diesen elendig nervtötenden Monolog, Finte um Finte, Nebelkerze um Nebelkerze, um sich in seiner eigenen Passivität zu verlieren. Eine Handlung existiert nicht. Es wird gelatscht, gequatsch, gesoffen, geglotzt. Das wars. Er urteilt, klagt an, in sich geschlossen als Monolog. Es findet keine Kommunikation statt. Kommunikation muss für mich Anschlussmöglichkeiten eröffnen, die Gedanken, Handlungen oder Verhaltensweisen weiterführen können. Erlaubt der Text nur nicht. Die Absicht beherrscht alles und die Tat verkommt zur bloßen Bestätigung eines vorgefassten Zynismus.
Die Absicht: autoritäre Machtphantasien nach allen Seiten durch manipulative Rhetorik absichern. Widersprüche im Keim ersticken.
Die Sprache dient Camus als Werkzeug. Sie wird auf ihre Funktion reduziert. Empfangt meine Botschaft! Empfangt das reine Ergeben im Absurden. Empfangt meine Selbstanklage, denn nur so bin ich frei zu urteilen wie es mir beliebt.
Und nun meine Frage an alle da draußen: Wie kann ich mit solch einer Niedertracht produktiv als Text arbeiten? Der Text umfließt und hinterwandert die Figur Clemens nicht. Der Text, die Sprache, der Stil ist Clemens. Ich kann mich tatsächlich nur hinstellen und anerkennend nicken und sagen: Respekt mein Junge! Das ist mal nen ausgezeichnetes Beispiel für manipulative Dogmatik, die die ganze Moralphilosophie den Gulli runter spült.
Ich bin als Leser zwar kein Teil des Geschehens, Requisite muss reichen, aber hey, immerhin hab ich nem Wacholder saufenden Typen nen paar Stunden meines Lebens gegönnt, der den Reißverschluss hochzieht und sagt: „War geil oder?!“
NEIN Camus. Du hast hier Literatur der Ohnmacht produziert - Sackgassenliteratur- der du sprachlich keine Mittel entgegen setzen kannst oder sie bewusst verweigerst. Das Buch ist leer, hohl und ohne Bewegung. Es bleibt in seiner Selbstbezüglichkeit und führt nirgendwo hin. Eine leere Geste. Ich neige dazu deine Intention herauszulesen, obwohl ich von der Schlammschlacht zwischen dir und Sartre im Detail erst hinterher erfahren habe. Das Buch liest sich wie ein einziger intendierter Angriff. Ja, das Buch ist Kritik. An Intellektuellen, an allen Moralaposteln, die sich die scharfsinnigsten Ideen ausdenken und Whisky saufend im Sessel sitzen, denken, denken, denken und arbeiten...hää? Nee… Verantwortung tragen ist Arbeit genug. Hast du nicht mal was von einer Revolte geschrieben? Jetzt Kapitulation vor dir selbst?...more
Diese Wertung ist unverhältnismäßig, da das Buch ein klares Fragment darstellt, das einen in der Luft hängen lässt und kompositorisch auseinander flieDiese Wertung ist unverhältnismäßig, da das Buch ein klares Fragment darstellt, das einen in der Luft hängen lässt und kompositorisch auseinander fliegt. Die zweite Hälfte ist stilistisch völlig anders als die Erste und gestaltet sich für mich unbefriedigend. Aber! Mich hat die erste Hälfte so dermaßen gefesselt, beeindruckt und vereinnahmt, dass ich hier einen Bonusstern gebe. Radikale Entkleidung ohne Schutzschicht. Und am intensivsten dieser Minimalismus, der für mich einen irren hintergründigen Raum und Subtext aufmacht. ...more
Der Inkommunikabilität mit dem Briefroman begegnen und darüber die Unmöglichkeit und Leere herausarbeiten, sie sogar verstärken. Die Stille um ihre, vDer Inkommunikabilität mit dem Briefroman begegnen und darüber die Unmöglichkeit und Leere herausarbeiten, sie sogar verstärken. Die Stille um ihre, vor ihrer Geburt verstorbenen Schwester, einkreisen.
Ein Kontrast zu "Erinnerungen eines Mädchens". Ein zahmes, zartes Buch. Offen, ehrlich, nahbar.
In diesem Buch stellt sie für mich klar wie gut sie sich mit der Psychoanalyse auskennt und sie sich dieser an einem gewissen Punkt verweigert, sie für sich ablehnt. Es gibt Dinge, die möchte sie nicht ergründen, sagt Nein! und spricht dies ohne Verteidigungshaltung und Finten aus.
Ich habe diesen Text neben dem Erbe der Abwesenheit, ihrem Ursprung des Daseins und Schreibens, als Konflikt der Werte mit ihren Eltern gelesen. Ihr wird über eine Aussage ihrer Persönlichkeit, ihres Wesens eine Bedeutung zugewiesen, die aus einem streng religiösen Kontext erfolgt. Damit beginnt das Gericht, das Ernaux bis ins Erwachsenenalter verfolgt.
"Ich bin nicht so lieb wie sie, ich bin ausgeschlossen. Also werde ich nicht in der Liebe sein, sondern in der Einsamkeit und in der Intelligenz." ...more
Es weht der Wind, die Natur pulst und lebt, schneidet und überlädt die Kulisse mit Aktivitäten und pompösem Sprachspiel. Eine Intensität die sich im AEs weht der Wind, die Natur pulst und lebt, schneidet und überlädt die Kulisse mit Aktivitäten und pompösem Sprachspiel. Eine Intensität die sich im Außen abspielt und die Marie in sanfte Morgenröte hüllt- heile, heile Gänschen - Salbeihonig. Die Marie ist erschöpft, vom Code ihrer Zeit. Ermüdend wirkt auch die Reihung der Naturbeobachtungen. Ermüdend, da die Sprache keinen Druck aufbaut. Es liest sich rein illustrativ-surreal in einer Überhöhung, die kalt und kalkuliert auf mich wirkt. Die Sprache ist reines Ornament. Mich berührt da rein gar nichts. Das ist leblose Durchäthestisierung mit moralisch, pädagogischer Tiefenstruktur -(Da gehe ich nicht weiter drauf ein, da ich bereits in Bezug auf Anna Karenina die Erfahrung gesammelt habe, dass das niemanden juckt oder gar nicht so wahrgenommen wird). Ein volkstümliches Theater, eine Karikatur von beseelter Natur.
Aber nicht doch! Der Text ist doch so sanft und einfühlsam. Richtig. Das ist nämlich eine "Klara und die Sonne". Hier soll nicht mit sich gerungen werden. Die Sätze sollen nicht wie in "Hyperion" an den Abgrund führen und ein Zuviel im Inneren sein. Der Text möchte verklärend, den stillen Rückzug ins Innere gewähren.
„Sie begehrt nicht auf.“ „Ein rötlicher Strahl … wohltuend wie Salböl.“ „Sie lächelt beim Anblick der schönen Lüge.“
Diese Stelle wird wie ein Höhepunkt poetischer Kraft inszeniert. Wo emotionale Enge und Not am Größten sind, wird keine Verzweiflung gezeigt. Nein, unsere Marie wird von der Natur erlöst. Ihr Verstummen ist nicht hörbar. Es wird in das Licht der Sonne gehüllt und lullt in einem schönen Zustand des Aufgebens ein. Hurra! Jetzt bin ich aber beruhigt.
Nee auf dieses ästhetisch eingesetzte Verstummen steh ich mal gar nicht. Sie erzeugt ihre Stille nicht selber, wie Narziss es aus Hesses Roman tut. Das hier ist eine Stille die durch ornamentale Metaphernschlacht zugespachtelt wird und herrlich sediert. Aber Hauptsache irgendwas mit Natur, das heilt. Hui, da muss das Herz ja aufgehen. Hach - und dieser Wind und die Bäume und Zweige und ächz und knack und blinky winky....
Das ist ein Buch, um nicht mehr hören zu müssen. Annehmen, dass die Menschen um einen herum scheiße sind und in einem passiven Rückzug, grenzdebil in die Weite schauen. Dieses Pathos entzündet sich an rein gar nichts. Das ist ein Ort der Erlöschens.
Knallharter, schmerzvoller Realismus, der die Verschränkungen von persönlichen Entscheidungen und sozialen Umständen erforscht. Die sozioökonomischen Knallharter, schmerzvoller Realismus, der die Verschränkungen von persönlichen Entscheidungen und sozialen Umständen erforscht. Die sozioökonomischen Bedingen und die Rolle der Sprache bestimmen das Bild. Ein Arbeiterviertel, von Armut durchzogen.
Gervaise, von Lantier sitzen gelassen. Eine pragmatische, zupackende Frau mit bescheidenen Idealen:
„Mein Gott, ich bin nicht ehrgeizig, ich verlange nicht viel ... Mein Ideal wäre es, ruhig zu arbeiten, immer Brot zu haben, ein reinliches Kämmerchen zum Schlafen, nicht geschlagen zu werden, Schließlich könnte man noch wünschen, in seinem eigenen Bette zu sterben ... Wenn ich mein ganzes Leben lang mich matt und müde gearbeitet habe, möchte ich gern in meinem eigenen Bette sterben."
„Ihr einziger Fehler, versicherte sie, sei, zu gefühlvoll zu sein, alle Welt lieb zu haben und sich für Leute zu erwärmen, die ihr hernach tausend Ungelegenheiten machten. Wenn sie daher einen Mann liebe, denke sie dabei an keine Dummheiten, ihr Traum sei immer, zusammen zu leben und glücklich zu sein“
„Sie verglich sich mit einem Sou, den man in die Luft geworfen und der nun entweder mit Kopf oder Schrift nach oben herniederfallen könne je nach den Zufälligkeiten des Pflasters“
Sie lässt sich auf eine Ehe mit dem Zinkarbeiter Coupeau ein. Alles läuft die ersten Jahre harmonisch. Coupeau lehnt das Trinken ab und beide arbeiten hart um etwas Geld beiseite zu legen. Ein Dachsturz Coupeau’s läutet die Wende ein. Er beginnt nach langer Genesungszeit, die das Ersparte auffrisst, mit dem Alkohol und kommt nicht mehr recht ans Arbeiten. Gervaise freundet sich mit dem Nachbarn und Schmied Goujet an, der ihr das Geld für ein Ladenlokal leiht, in dem sie eine Feinwäscherei eröffnen kann. Sie ist durchsetzungsstark und voller Eros – Lebensenergie, positiv aufgeladen, mit einem Begehren, das nach vorne strebt und sie im Rahmen des eng gesetzten Handlungsspielraumes beeindruckend agieren lässt. Sie nimmt ihre Schwiegermutter auf beengtem Raum auf und ist lange Zeit Alleinverdiener. Coupeau trägt nur hin und wieder zu den Unterkünften bei. Von den Geschwistern Coupeaus ist nicht viel zu erwarten. Insbesondere Madame Lorilleux wird als missgünstige Figur inszeniert. Zola lässt wenig Raum für gemeinschaftlich, soziales Verhalten. Die Figuren strampeln weitestgehend allein für sich hin. Es wird sich am Elend des anderen ehr ergötzt. Man findet ganz unten immer einen Weg noch weiter nach unten treten zu können. Gervaise steht über diesem Benehmen. Selbst als Humpelliese bezeichnet, lässt sie sich nicht beeindrucken.
Man muss Zolas liebevollen Blick auf die Härte der Menschen und ihrem Leben genau suchen. Er ist aber da. Hier und da blitzt etwas wie Freundschaft hervor. Die Wäscherei Frauen, die an einem klirrend kalten Tag ihren Kaffee schlürfen, plaudern und sich nahe kommen. Der alte, heruntergekommene Mann, der zum Essen eingeladen wird und die reichende Hand Goujet’s, der Gervaise liebt.
Das war ein Traumleben in dem Werk eines Riesen, inmitten der flammenden Kohle, unter diesem wackelnden Schuppen, dessen rußige Balken krachten. All dieses zerschmetterte Eisen, das wie rotes Wachs gefügig sich formen mußte, trug den rauhen Stempel ihrer Zärtlichkeit. Wenn die Wäscherin Freitags das Löwenmaul verließ, stieg sie langsam die Fischerstraße hinauf; sie war befriedigt und ihr Geist sowie ihr Körper hatten ihr Gleichgewicht wiedergewonnen.
Und jetzt kommt es zum Bruch! Die Charaktere Zolas sind in einem Übermaß des Symbolischen gefangen. Der soziale Code erdrückt. Die Figuren sind weitestgehend nicht reflexiv. Sie haben keinen ausreichend sprachlich ausdifferenzierten Code sich zu reflektieren und in Beziehung zu setzen. Die Verankerung in der symbolischer Ordnung, den Normen, Regeln, Erwartungen, Rollenbildern, dem wovon das Schicksal angeblich bestimmt sei, ist das Außen. Das Subjekt ist in einer ewigen Reproduktion der gleichen sozialen Muster gefangen, die keinen Raum für Transformation lassen. Man sieht sich als Opfer des Schicksals. Das Symbolische taugt schon mal überhaupt nicht, die Realität zu bewältigen. Also Flucht ins Imaginäre – die Träume, das Begehren und die Unmöglichkeit eine vollständige Befriedigung zu finden. In diesem prekären Umständen eine absolute Unmöglichkeit. Soziale Auffangnetze sind nicht vorhanden. Was passiert wenn Eros abhanden kommt? Wenn die Figuren sich auf einem Schauplatz des Leidens wiederfinden? Traumata, Erlebnisse, die eine Leere erzeugen. In Gervaise Fall das Eingeständnis:
„Er glich dem andern, dem Trunkenbold, der da oben schnarchte, nachdem er sich müde geschlagen hatte. Da legte es sich ihr wie Eis aufs Herz, sie dachte an die Männer, an ihren Ehemann, an Goujet, an Lantier, und mit zerrissenem Herzen verzweifelte sie daran, jemals glücklich zu werden.“
Gervaise entwickelt aus dem Mangel und dem Versuch mit dem Realen, dem Unausprechlichen in Kontakt zu kommen eine Mehrlust, die als Dekadenz ausgelegt wird. Völlerei und Kontrollverlust über die Finanzen, in dem Versuch es sich gut gehen zu lassen. Der Alkoholismis und Gewalt ist ebenfalls über diesen Aspekt zu erklären.
Zola weist Gervaise und den Figuren überall Türen, Verantwortung für das eigene Leben übernehmen zu können. Nana, die Tochter Gervaise bekommt die Möglichkeit ihren Beruf selbst wählen zu dürfen. Revolutionär. Gervaise steht an sich für Freiheit und Öffnung. Prügelt dies hinterher komplett zu Brei. Die reichende Hand Goujet’s wird nicht ergriffen. Weil man es sich sich nicht vorstellen kann, dass ein Traum in der eigenen sozialen Verankerung wahr wird, der nur der vornehmen Gesellschaft vorbehalten ist. Man verweist sich selbst auf seinen Platz. Gervaise opfert sich selbst. Sie fällt nicht zum Opfer, sie setzt sich als solches, für eine Hoffnung auf eine diffuse, äußere Macht, das Schicksal.
“ Und es wäre eine Dummheit sicherlich ... Nein, seht Ihr wohl, dafür ist es besser, daß alles beim alten bleibt. Wir achten einander, unsere Gefühle stimmen überein. Das ist viel und hat mich schon mehr als einmal aufrecht erhalten. Wenn man in unserer Lage anständig und ehrenwert bleibt, wird es einem einst vergolten werden.
Persönliche Entscheidungen verflechten sich mit den Grenzen der sozialen Struktur. Hoffnungen und Träume werden externalisiert.
Zola nutzt Lantier und Goujet als faszinierende Charaktere, die sich als Kontrast zum Determinismus lesen lassen. Lantier, der Charmeur und Manipulator. Der die Oberflächlichkeit und sozialen Strukturen nutzt um seine Vorteile daraus zu ziehen. Zweifelhaftes Verhalten als Ausweg. Goujet, der leise, im Hintergrund, seine Integrität bewahrt. Zurückhaltung und Kontrolle über seine Triebe und sein Begehren zeichnen ihn aus. Er zerbricht nicht an dem Eingeständnis sein Glück (in der unerfüllten Liebe mit Gervaise) nicht zu finden.
Zola weist in seinem erbarmungslosen Strudel des Verfalls, auf die Möglichkeit der Würde.
Ich habe selten ein Buch gelesen, das so knallhart draufhält, verstört und schmerzt. Grandios!...more
Mein erster Zola. Insofern kann ich das Buch nur alleinstehend beurteilen. Die technische und industrielle Revolution steht im Vordergrund -3,5 Sterne
Mein erster Zola. Insofern kann ich das Buch nur alleinstehend beurteilen. Die technische und industrielle Revolution steht im Vordergrund - die Bestie Maschine, in diesem Fall die Eisenbahn, die Lok Lison wird empathisch aufgeladen, in fulminante Szenerien eingebunden und liebevoll durch den Lokomotivführer Jaques umsorgt.
"Die Schnellzugslokomotive ließ aus einem Ventil einen mächtigen Dampfstrahl heraus. Der weiße Strahl stieg hinauf in all dieses Schwarz und zerstäubte dort in kleine Rauchwölkchen und diese bethauten das so unsäglich weit am Himmel ausgespannte Kleid des Todes mit ihren heißen Thränen."
"Jetzt erwachte bleich der Tag, aber es schien, als rührte dieser durchsichtige Schimmer nur vom Schnee her. Er fiel noch dichter, es war, als wäre der Himmel geborsten und seine Trümmer sänken im eisigen Grauen des Morgens auf die Erde. Der Wind nahm mit dem Tage an Heftigkeit zu, die Flocken wurden wie Kugeln dahingejagt, alle Augenblicke mußte der Heizer zur Schaufel greifen, um die Kohlen des Tenders zwischen den Wänden des Wasserbehälters frei zu schippen. Rechts und links erschien die Landschaft den beiden Männern so undeutlich wie in einem flüchtigen Traum: die meilenweiten flachen Felder, die von lebendigen Hecken eingefaßten Weideplätze, die mit Obstbäumen eingehegten Chausseen waren ein einziges, kaum von niedrigen Schwellungen unterbrochenes weißes Meer, eine zitternde, blasse Unendlichkeit, in deren Weiß Alles aufging. Der Lokomotivführer, das Gesicht gepeitscht von der Windsbraut, die Hand an der Kurbel, begann jetzt fürchterlich von der Kälte zu leiden."
Die genauen Zeitangaben und getimeten Gleisstellungen und Signallichter bieten fast die einzige Ordnung und Orientierung in dem Roman. Der Mensch wird dramatisch mit unvorhersehbaren, sprunghaften Verhaltensweisen der Gewaltneigung dargestellt. Zola liefert einen Kriminalfall. Die gerichtlichen Szenen schmückt Zola mit reichlich parodistischem Potential die Unzulänglichkeiten menschlicher Urteilsfähigkeit herauszustellen. Frei nach dem Motto: "Was ich mir nicht vorstellen kann, kann auch nicht wahr sein".
"Damit war also der Beweis einer außerordentlich geschickt gemachten Verbindung Beider erbracht. Der Richter durchhechelte die Psychologie dieses Falles mit einer wahrhaften Liebe zu seinem Berufe. Noch nie, so erzählte er, sei er so tief in die menschliche Natur eingedrungen. In ihm siegte das Ahnungsvermögen über die Beobachtungsgabe. Er gehörte zu der Schule der sehnenden und fascinirenden Richter, die durch einen einzigen Augenaufschlag den ganzen Menschen bloßlegen. Die Beweise waren übrigens ebenfalls in erdrückender Menge zur Stelle. Noch nie hatte eine Untersuchung eine solidere Basis ergeben, die Gewißheit blendete geradezu wie das Licht der Sonne selbst."
Drumherum noch ein bisschen Besessenheit, für Geld zu töten. Verschmähte Liebe und ein Akt der Rache. Einer, der kein Handwerkszeug besitzt, sich in einer veränderten systemischen Situation zu Verhalten, zu Kommunizieren und im Sumpf des Alkohols und der Spielsucht verrottet. Das Begehren zweier Liebender und die Macht der genetischen Disposition bzw. sozialen Prägung.
"Eine Ignorantin wie sie, die in ihrer passiven Milde nichts gelernt hatte, konnte nicht anders als gehorchen: ein williges Instrument für die Liebe wie für den Tod."
"Frauen brachten seinem Geschlecht Unheil"
Zola wütet sprachlich teilweise wie ein heißer Sandsturm. Ich bin von einigen Kapiteln sehr beeindruckt. Allerdings hat er einen äußerst plakativen Stil die Szenerien zu gestalten und die Figuren agieren zu lassen. Dies wirkt auf mich stellenweise wie ein Kasperletheater. Jemand, der grad nicht im Fokus steht wird in eine Kiste gepackt und darf im entscheidenden Moment auf einer Sprungfeder wieder ins Geschehen schießen. Die Handlungen und Abläufe wirken äußerst konstruiert. Man liest das Schema so arg heraus. Bin kein Fan dieser übertriebenen Gesten in Zusammenhang mit abrupt wirkenden, parodistischen Einschüben. Das Ende gibt dem Buch dennoch eine zufriedenstellende, runde Note. Eine Fahrt in den Wahnsinn. ...more